822
Aber mehr konnte ich nicht verstehen. Es sauste in meinen Ohren, ein Gefühl unsachlicher Schwäche überkam mich, und ohnmächtig sank ich nieder.
Den 3. Dezember.
Als ich gestern erwachte, war ich in meinem Zimmer, und nur Frau Brigitte bei mir. „Ich habe sie alle fortgeschickt, Kindchen," sagte sie, und ich war es zufrieden, denn ich fühlte mich sehr niatt und mein Kopf schmerzte. Am Abend kam Frau Tübner, um nach mir zu sehen, und es rührte mich dies tief, da die alte Dame sonst nie ihre Wohnung verläßt.
Heute geht es mir schon etwas besser, und Evchen saß ein Stündchen bei mir; aber mir ist doch ganz sonderbar zu Muthe, und meine Gedanken verwirren sich auf eigenthümliche Weise.
Ich glaube, es ist besser, ich lege die Feder nieder und thne gar nichts, vielleicht geht dieser unbehagliche Zustand schneller vorüber.
Den 18. Januar.
Es ist heute das erste Mal, daß man mir gestattet, dieses Buch zur Hand zu nehmen, und Evchen, die neben mir sitzt, hält strenge Wacht, daß ich von der Erlaubniß keinen zu ausgedehnten Gebrauch mache. Ja, wunderbar genug; Evchen, die vor fünf Wochen schon abreisen sollte, ist noch immer hier und läßt es sich nicht nehmen, mich zu pflegen, obgleich ich einer so strengen Pflege gar nicht mehr bedarf.
Ich kann jetzt schon wieder selbst für mich sorgen. Aber viele Wochen lang war ich krank und schwebte am Rande des Grabes, ohne etwas davon zu wissen. Ein Nervenfieber war damals plötzlich in voller Macht zum Ausbruch gekommen, und die wildesten Fieberphantasien wurden von einem Zustande vollständigster Apathie gefolgt. Ich bemerkte wohl, daß viele Menschen um mich beschäftigt waren, ich erkannte den Doktor und eine barmherzige Schwester, welche die Nachtwachen hielt, während Frau Brigitte und Evchen sich bei der übrigen Pflege ablösten; aber es war, als wären dies nur Schattenbilder, die mich durchaus nichts angingen. Mein Geist war so müde, daß es mir absolut unmöglich war, über irgend etwas nachzudenken, erst nach und nach kehrten meine Kräfte so weit zurück, daß ich zusammenhängend sprechen konnte, aber noch lange, nachdem die eigentliche Gefahr vorüber war, lag ich stundenlang mit offenen Augen da, ohne sichtbares Zeichen, daß ich meine Umgebung wahrnehme.
Mit der zunehmenden Genesung kehrte aber auch die Erinnerung zurück, und es wurde mir klar, mit welcher Sorgfalt und Liebe man mich umgeben hatte. Ja, tiefe Rührung bemächtigte sich meiner, als ich hörte, in welche Betrübniß meine Umgebung durch diese ernste Krankheit gestürzt worden war, und wie alle darin gewetteifert hatten, mir Wartung und Pflege angedeihen zu lassen.
Evchen, das liebe kleine Ding, hat so flehentlich um Verlängerung des Urlaubs gebeten, um mich nicht verlassen zu dürfen, daß er ihr gewährt wurde, und sogar den heiligen Christabend hat sie in meinem Krankenzimmer zugebracht. Frau Tübner ist täglich herüber gekommen, und die gute Brigitte war unermüdlich in Herbeischaffnng all der tausend Dinge, welche bei einer solchen Pflege benöthigt werden. Der alte Hausarzt aber, der sich noch einen anderen zu Hilfe geholt und mich dem Leben erhalten hat, er lächelt immer ganz vergnügt, wenn er seinen Besuch macht, und versichert mir, es hätte mir gar nichts Besseres passiren können, als einmal so recht gründlich krank zn werden, bei einer guten Natur sei das ein wahrer Segen.
„Denken Sie an mich," sagte er neulich, „Sie werden jetzt erst zum frischen vollen Leben erblühen." Und als ich ihm mein hohes Alter als nnübersteigbares Hinderniß ent- gege nhielt, da lachte er mich aus und meinte, bei mir könne man nicht mit dem Kalender rechnen; denn Pflanzen, die Sonnenschein brauchen und stets doch im Schatten stehen, die blieben immer zurück in der Entwickelung.
Den 21. Januar.
So weit war ich neulich gekommen, da nahm mir Evchen die Feder ans der Hand nnd meinte, es sei genug für einmal. Heute aber darf ich sortfahren.
Welch ein herrliches Gefühl ist doch die Genesung! Ich fühle mich so frei und leicht, als wäre ich erlöst aus schweren Banden, und wie schön erscheint mir das Leben! Es ist, als ob ich jetzt eine höhere Fähigkeit besäße, alles zu genießen, als wäre eine Binde von meinen Augen genommen und ich schaute nun mitten in den blauen Himmel hinein. Und doch erinnere ich mich der bitteren Kämpfe und Schmerzen, die sich die letzten Tage vor meiner Erkrankung zu unerträglicher Qual gesteigert hatten, aber der Stachel ist ihnen jetzt genommen, sie sind aufgelöst in sanfte Wehmuth. Eine erquickende Ruhe ist ans den Sturm gefolgt, aber mein Herz hat nicht anfgehört zn schlagen, und hat seine Liebe bewahrt als sein höchstes Kleinod. Und Nikolai?
Nun, auch er ist noch hier, und daß dem so ist, daran erinnern mich die duftigen Blüten, die mein Zimmer schmücken, und die er mir jetzt täglich sendet mit einem Morgengruß.
Draußen deckt weißer glitzernder Schnee alles zu, und leise und langsam schweben die weißen Flocken an meinem Fenster vorüber. Innen aber ist es Frühling, mein Zimmer, das ich endlich mit der Krankenstube vertauschen durfte, gleicht einem Garten, und Krokus und Lazetten, Alpenveilchen und Erika grüßen mich, wohin ich blicke.
Und neben mir, sorgsam gepreßt zwischen den Blättern dieses Buches, liegt der kleine Veilchcnstrauß, den er mir zuerst geschenkt. Sein zarter Duft erinnert mich an unsere letzte Begegnung, und an die erste.
Er flüstert von allerhand Dingen, die ich doch nicht recht glauben kann, und zaubert mir Nikolais Bild vor die Seele. Aber nicht mehr trostlos und traurig bin ich, wenn ich sein gedenke, ich weiß nur, daß ich ihn bald Wiedersehen darf, und ich will glücklich sein in der Erwartung dieses Augenblickes, ohne mich mit trüben Vorstellungen zu quälen.
Den 23. Januar.
Evchen ist ein Engel! Nie ermüdet sie, nie läßt sie nach in der Erfüllung ihrer selbstgeschasfenen Pflichten. Sie ist so recht dazu geschaffen, mich wieder gesund zu machen. Ihr heiteres frisches Wesen, das nie lästig wird nnd immer Anregung und Zerstreuung bringt, hat eine überaus wohlthätige Wirkung, und es ist schon eine Erfrischung, in ihr liebes heiteres Gesichtchen zu sehen. In den ersten Tagen des Februar kommt Frau Harlemmer, um sie nun endlich abzuholen, und Evchens willen freue ich mich dessen; denn ich fürchte, die angestrengte Pflege und das stete Bemühen, ihre Zeit zwischen mir und den Großeltern zn theilen, hat sie etwas angegriffen. Sie will das allerdings nicht zugeben, aber ich schicke sie jetzt jeden Tag in die Luft; unter Frau Brigittens Obhut muß sie lange Spaziergänge machen, und ich sehe es mit Vergnügen, wenn sie dann mit gerötheten Wangen und blitzenden Augen wieder heimkehrt.
Es ist dies die einzige Zeit am Tage, wo ich allein bin, aber wenn ich auch meistens noch ans dem Sopha liege oder im Schaukelstühl am Fenster sitze, so darf ich doch im Zimmer nmhergehen, und bin nicht mehr so hilflos wie bisher. Wenn ich allein bin, denke ich an Nikolai, nnd wundere mich, daß er noch nicht kommt. Evchen hat mir erzählt, daß er sehr- fleißig an einem Bilde malt, aber sie will durchaus nicht ver- rathen, was es ist.
Im übrigen ist auch sie wenig mit ihm zusammen nnd erträgt diese Trennung mit ziemlichem Gleichmuth. Sie scheint mich wirklich sehr lieb zu haben, und ich war schlecht genug, einmal eifersüchtig auf sie zu sein. Das liebe kleine Ding, ich habe es nicht um sie verdient und eingesehen, wie unrecht ich that, als ich mich einsam und verlassen fühlte trotz ihrer Freundschaft.
Den 24. Januar.
Auf meinem Frühstückstisch lag heute morgen wieder ein Blumenstrauß. Wie groß war aber meine Freude, als ich