114
Ueber Land und Meer.
?
Kme MMrschrl nach MH-Wen.
Humoristische Erzählung
Klirrt Gckberrg.
(Schluß.)
"^K)^(ecerino stand noch immer da wie ein ägyptisches Götzenbild. Die Hände über dem Magen vereint, darin das rote Notenheft, den Kopf geneigt, Zorn und Mißbilligung zwischen den Brauen. So stand er regungslos.
Cohn setzte die Hände an den Mund: „Weiter! weiter!" denn das Publikum wurde unruhig.
Und merkwürdig, Mecerino sang, obwohl die Wagen schleppend abermals ihre Fensterpromenade machten und dröhnend wiederum vorüberrasselten. Er begann das Lied noch einmal und zwar mit einer gewissen triumphierenden Freude.
In der Mitte des ersten Verses — ich kann nicht leugnen, daß sich mein Interesse gleich dem der meisten Zuhörer auf den Vorgang draußen richtete — wurde das Geräusch des Wagendonnerns durch heftigen Lärm, der in Geschrei ausartete, übertönt. Gerade vor den Fenstern der Konzerthalle spielte sich ein bewegtes Schauspiel ab. Levisons „Leute" hatten an dem störenden' Eingriff in ihren billigen „Kunstgenuß mit Butterschnitten" argen Anstoß genommen. Dringend hatten sie vom Wirt vollen Genuß ihrer Rechte verlangt und schließlich mehrere Delegierte hinausgeschickt, die sich den Cohn- schen Rosselenkern entgegenwerfen und die Pferde ansspannen sollten.
Aber auch in den Brüdern Cohn regte sich ein Tropfen Makkabäerblut.
Sie schwangen ihre Peitschen, ließen sie über den Köpfen der Ruhestifter pfeifen und erhoben ein lautes Kriegsgeschrei. Die Lastpferde setzten sich in Trab. Levison erschien, zeterte, gestikulierte und hielt sich in sicherer Entfernung.
Und noch immer sang Mecerino.
Als Cohn die ihm widerwärtige Stimme Levisons hörte, trieb es auch ihn in den Kampf der Wagen und des Gedränges.
„Ausspannen!" rief Levison wütend von seiner Hausthür aus.
„Zufahren!" schrie Cohn mit wilder Freude.
„So reißt doch die Pferde los vom Wagen!" zeterte Levison.
„So fahrt doch die Leute über'n Haufen!" pfiff Cohn.
„Die Straße ist nicht da für solche Nichtswürdigkeiten!"
„Hier kann fahren, wer will! Haben Sie bezahlt für die Musik?"
„Alle haben sie bezahlt!"
„Aber nicht mir!"
„Aber mir!"
Dazu das Rasseln und die lebhafte Menge und Mecerino, der wie eine aufgezogene Orgelflöte sein Meer nnerschüttert heruntersang ...
Ich sah, wie aus den angrenzenden Häusern die Bewohner herbeieilten und Partei ergriffen. Hie Cohn! hie Levison! Es war ein Straßenkrawall, der seinesgleichen suchte.
Auch von nnserm Publikum verließ schon ein Teil seine Plätze, um draußen handelnd oder scheltend mitzuwirken. An eine Fortsetzung der Musik war jetzt gar nicht zu denken. Polizei schien in Rempen ein unbekanntes Rettungsmittel.
Trotz dieser außergewöhnlichen Verhältnisse erinnerte sich die Goldstein plötzlich ihrer Nichte.
„Glasphyra! Wo ist die Glasphyra! Gott du Gerechter, ich hab's geahnt —"
Auf einmal stand Cohn wieder neben ihr.
„Was schreien Sie denn so?!"
„Sie ist weg! Und ich Hab' beim Rechtsanwalt den Wert vom Kontrakt mit dem Levison schätzen müssen auf vierzigtausend Mark. Macht fünfzig Mark Spesen. Und nu ist sie weg. Schaffen Sie sie! Schaffen Sie sie!"
Isidor rannte hinaus.
In den allgemeinen Tumult hinein brach ein Mädchen, das wie eine Irrsinnige daherfuhr. Ihre Füße waren nackt, ihre Haare flogen. Aus Leibeskräften schrie sie:
„Wo ist die Gold stein? Ich muß zur Frau Goldstein!"
In ihrer Rechten flatterte ein gelbliches Papier in Quartformat.
„Was? Ein offenes Telegramm?" schrie Levison, dem Sachkenntnis und Instinkt sein verlorenes Auge ersetzten.
„Zeigen Sie her, zeigen Sie her!" forderte Cohn, indem er durch die Menge steuerte. Beide stürzten im Wettlauf auf das Mädchen los, welches das Volk sogleich umflutete.
„Es ist passiert ein großes Unglück!" schrie die von innerem Entsetzen Gehetzte den Zudringlichen entgegen und stieß, das Telegramm in der Notwehr zusammenballend, so daß sie's mit der Linken zu schützen vermochte, sich mit der Rechten einen Weg nach dem Eingang der Konzerthalle.
„Ist sie drin, noch drin, die Frau Goldstein?"
Wer dachte noch an die Wagen, deren Lenker jetzt mit der Menge hinter dem Mädchen herdrängten!
Wie eine Rasende fuhr dasselbe, den Zettel wieder über dem Haupte schwingend, in die Konzert- Halle ein.
„Wo ist die Frau Goldstein? Es ist passiert ein großes Unglück!"
So gelangte sie unter die Lampen.
Die Goldstein fuhr mit der Hand nach dem Herzen.
„Hat sie mir etwa gestohlen meine Brillant- broche?" Sie meinte Glasphyra.
Das Mädchen hörte nichts.
„Hier! hier! Ein großes Unglück!"
Die Betroffene stand schon vor den Lampen.
„Nehmen Sie doch!"
Mühsam faßte sie das ihr entgegengestreckte Telegramm.
Mecerino hatte schon vorhin im vorletzten Takte abgebrochen. Die letzten Schmerzensschluchzer des thränenvergifteten Jünglings ließ er nngesungen. Er begab sich zur Spatz und kicherte ihr etwas Längeres ins Ohr. Spätzchen war erst erschrocken; dann kicherte auch sie und raffte mit ihm die Noten zusammen.
Das Publikum hatte sich erhoben, verschoben, in Gruppen gesondert. Alle starrten scheu, gespannt nach der vom Glück begünstigten Frau Goldstein, die jetzt auf offener Bühne vor einer Unglücksbotschaft stand. Was konnte es sein? ... Die Goldstein hatte mit zitternder Hand den Zwicker auf die Nase geklemmt und hob und wendete nun die geglättete blaue Schrift, die ihr wohl vor den Augen tanzen mußte, ins rechte Lampenlicht.
Es war ein unheimlicher Augenblick! Sie liest — sie starrt — sie wird bleich, bleich wie die Kalkwand hinter ihr.
„Glasphyra . . stöhnt sie — „der Levison —" die Stimme bricht ihr, sie ringt nach Atem.
„Wasser! Wasser!" schreit Cohn in nächster Nähe. „Wasser! Sie stirbt!" Niemand folgt dem Rufe.
Und sie stirbt nicht. Vielmehr richtet sie sich mit der Kraft energischen Wollens zur vollen Höhe auf. Und das Telegramm in gestrecktem Arm von sich haltend schreit sie den Inhalt den Menschen zu, die mit weit ausgerissenen Angen vor ihr warten, bangen, fürchten:
„Joel und Levison sind pleite!"
Sie schreit es gellend, wie den letzten Schmerzensschrei, den eine menschliche Brust hervorbringt.
Und nun bricht sie zusammen.
Ich eile hinzu.
„Glasphyra!" stammelt die halb Betäubte.
Mein fragender Blick trifft Cohn, der erschreckt mit seinem roten Kopf über den Lampen auftaucht.
„Die kommt nie wieder!" grinst er. „Aberden Levison, den werde ich holen."
Ich schicke das Dienstmädchen der Goldstein nach dem Wagen, nach Wasser, nach Cognac, nach Eau de Cologne . . . Und niemand da, mir beizustehen! Die Spatz weg, Mecerino weg! Cohn wogt mit dem Menschenstrom, taub auf dem Ohr der Nächstenliebe, hinaus.
Das drängt und schiebt und stößt und schreit sich zu und flutet und ist außer sich. Jeder hat einen Verlust zu beklagen; wenn's auch gering ist, jeder ist mit getroffen. Wie ein Echo tönt der ver
hallte Klageruf der Goldstein durch die Straßen; ein trauriger Kanon, sich stets erneuend und wiederholend :
„Joel und Levison sind pleite!"
Levison hört es und stürzt sich unter die Menge.
„Das ist nicht wahr!" schreit er. „Wer das gesagt hat, der hat gelogen! Der Joel hat gestern sogar gemacht einen großen Rabbes an der Börse..."
Man glaubte ihm nicht. Wem darf man glauben? Der Verständige, Vorsichtige weiß: nur das Schlimme ist wahr. In Rempen ist jeder verständig und vorsichtig. Man hat das Telegramm gesehen! Man hat es die Goldstein rufen hören! Man hat sie ohnmächtig werden sehen; folglich ist es wahr.
Es war eine schauerliche Viertelstunde. Der erleuchtete öde Saal, — die verlassene Bühne, bestrahlt von den Blendlampen, — die farblose Frau in totenähnlicher Bewußtlosigkeit, — ich im Gesell- schastskleide neben ihr als einzige Hilfe.
Ich hatte ihr das Oberkleid geöffnet und rieb ihr die Hände.
Endlich regte sie sich. Einmal schlug sie die Augen auf. Sehr möglich, daß sie trotzdem nichts sah.
„Glasphyra," murmelte sie kaum verständlich, „wo mich gebracht hat der Levison um alles, was ich habe, — magst du heiraten — den Stenscewicz." Ein Seufzer der Schwäche. Wieder überkam sie eine Ohnmacht.
War Glasphyra Zu verdammen?
Endlich kam das Dienstmädchen mit dem Riechsalz und dem Cognac zurück. Sie hielt ihr das Fläschchen unter die Nase, während ich sie in Cognac förmlich badete und ihn ihr reichlich über die Lippen goß.
Jetzt kanl sie zu sich. Sie atmete, atmete tiefer; Farbe trat in ihr Gesicht. Nach einer Weile richtete sie sich auf. Sie blickte mit großen Augen im leeren Saale umher.
„Der Levison ist ein Schuft! Ein Schuft ist der Levison!" Sie ballte die Faust. „Die Glasphyra kriegt er nicht!"
Und plötzlich brach sie in Thränen aus.
Ich tröstete sie, so gut es ging, und brachte sie in ihren Wagen. Dann warf ich mein Spitzentuch über den Kopf und eilte, mein Kleid auf der menschenleeren Straße so hoch schürzend, als es für meinen Schritt bequem war, mit den traurigsten Eindrücken nach dem Hotel.
XII.
Wie fand ich Mecerino und die Spatz? — Im Sofa sitzend, wieder vor einer Flasche Sekt, kreuzfidel, als wäre die ganze letzte Stunde eine Zeitspanne voll Wonne gewesen.
„Mein Gott," rief ich, „das war ja entsetzlich!"
Mecerino schmunzelte.
„Na, Hagemännchen, gefiel Ihnen seine Revanche nicht?" fragte die Spatz.
„Welche Revanche?"
„Nun, der Spaß mit dem Telegramm!"
„Spa—a—aß. . ." Mir stand der Verstand still.
Beide sahen sich an und lachten.
„Das Telegramm trug keine Unterschrift. Es war bestellte Ware. Prosit!" Er trank sein Glas lachend aus.
Mir fiel's wie Schuppen von den Augen.
„Bolle? ..." stammelte ich.
„Natürlich Bolle. Wozu hat man denn einen guten Freund? Das nennt man prompt und verständnisinnig."
„Aber Mecerino!"
„ Schockschwernot, prost!"
„Sie haben sich schwer versündigt!"
„Ich entsündige mich wieder."
In mir gärte ein edler Zorn. Die öde Bühne mit der ächzenden Frau stand noch zu lebhaft vor meinen Augen. Wenn auch der Streich mit dem Telegramm als toller, durch die Vorgänge entschuldbarer Leichtsinn aufgefaßt werden konnte, so erschien mir doch die Stimmung des fidelen Pärchens angesichts der allgemeinen jammervollen Bestürzung in Rempen als krasse Herzlosigkeit.
„Schämen Sie sich!" rief ich empört, und ich fühlte, wie mir Lippen und Kniee bebten; aber die