Heft 
(1898) 10
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Ueber Land und Neer.

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ihm von Kraatz und van Peerenboom; Molchow gegenüber Direktor Thormeyer und der bis dahin mit der Festmusik betraute Lehrer, der bei solchen Gelegenheiten überhaupt Thormeyers Adlatus war. Sonderbarerweise hatte sich auch Kahler hier nieder­gelassen (er sehnte sich Wohl nach Eindrücken, die jenseits allerPflicht" lagen), und neben ihm, was beinahe noch mehr überraschen konnte, saß von der Nonne. Molchow und Thormeyer führten das Wort. Von Wahl und Politik nur über Gundermann siel gelegentlich eine spöttische Bemerkung war längst keine Rede mehr; statt dessen befleißigte man sich, die neuesten Klatschgeschichten ans der Grafschaft heranzuziehen.Ist es denn wahr," sagte Kraatz, daß die schöne Lilli nun doch ihren Vetter heiraten wird, oder richtiger, der Vetter die schöne Lilli?"

Vetter?" fragte Peerenboom.

Ach, Peerenboom, Sie wissen auch gar nichts; Sie sitzen immer noch Zwischen Ihren Delfter Kacheln und waren doch schon 'ne ganze Weile hier, als die Lilli-Geschichte spielte."

Peerenboom ließ sich's gesagt sein und begrub jede weitere Frage, was er, ohne sich zu schädigen, gut konnte, da kaum ein Zweifel war, daß der, der das Lilli-Thema heraufbeschworen, ohnehin alles klarlegen würde. Das geschah denn auch.

Ja, diese verdammten Kerle," fuhr v. Kraatz fort, diese Lehrer! Entschuldigen Sie, Luckhardt, aber Sie sind ja beim Gymnasium, da liegt alles anders, und der, der hier 'ne Nolle spielt, war ja natür­lich bloß Hauslehrer, Hauslehrer bei Lillis jüngstem Bruder, lind eines Tages waren beide weg, der Kandidat und Lilli. Selbstverständlich nach Eng­land. Es kann einer noch so dumm sein, aber von Gretna Green hat er doch mal gehört oder gelesen, lind da wollten sie denn auch beide hin. Und sind auch. Aber ich glaube, der Gretna Greensche darf nicht mehr trauen, lind so nahmen sie denn Lodgings in London, ganz ohne Trauung. Und es ging auch so, bis ihnen das kleine Geld ausging."

Ja, das kennt man."

Und da kamen sie denn also wieder. Das heißt, Lilli kam wieder. Und sie war auch schon vorher mit dem Vetter so gut wie verlobt gewesen."

Und der sprang nu ab?"

Nicht so ganz. Oder eigentlich gar nicht. Denn Lilli ist sehr hübsch und nebenher auch noch sehr reich. Und da soll denn der Vetter gesagt haben, er liebe sie so sehr, und wo man liebe, da ver­zeihe man auch. Und er halte auch eine Entsühnung für durchaus möglich. Ja, er soll dabei von Pur- gatorinm gesprochen haben."

Mißfällt mir, klingt schlecht," sagte Molchow. Aber was er vorher gesagt, ,Entsühnung', das ist ein schönes Wort und eine schöne Sache. Nur das ,Wie' man weiß immer zu wenig von diesen Dingen will mir nicht recht einleuchten. Als Christ weiß ich natürlich (so schlimm steht es doch auch nicht mit einem), als Christ weiß ich natürlich, daß es eine Sühne giebt. Aber in solchem Falle? Thormeyer, was meinen Sie, was sagen Sie dazu? Sie sind ein Mann von Fach und haben alle Kirchen­väter gelesen und noch ein paar mehr."

Thormeyer verklärte sich. Das war so recht ein Thema nach seinem Geschmack; seine Augen wurden größer und sein glattes Gesicht noch glatter.

Ja," sagte er, während er sich über den Tisch zu Molchow vorbeugte,so was giebt es. Und es ist ein Glück, daß es so was giebt. Denn die arme Menschheit braucht es. Das Wort Purgatorium will ich vermeiden, einmal, weil sich mein protestan­tisches Gewissen dagegen sträubt, und dann auch wegen des Anklangs; aber es giebt eine Purifikation. Und das ist doch eigentlich das, worauf es ankommt: Neinheitswiederherstellnng. Ein etwas schwerfälliges Wort. Abör die Sache, drum sich's liier handelt, giebt es doch gut wieder. Sie begegnen diesem Hange nach Restitution überall, und namentlich in: Orient, aus dem doch unsre ganze Kultur stammt, finden Sie diese Lehre, dieses Dogma, diese Thatsache."

Ja, ist es eine Thatsache?"

Schwer zu sagen. Aber es wird als Thatsache genommen. Und das ist ebensogut. Blut sühnt."

Blut sühnt," wiederholte Molchow.Gewiß. Daher haben wir ja unsre Duellinstitution. Aber wo wollen Sie hier die Blutsühne hernehmen? In diesem Spezialfalle ganz undurchführbar. Der Haus­

lehrer ist drüben in England geblieben, wenn er nicht gar nach Amerika gegangen ist. Und wenn er auch wiederkäme, er ist nicht satisfaktionsfähig. Wär' er Reserve-Offizier, sohütt'ich das längst erfahren..."

Ja, Herr von Molchow, das ist die hiesige Anschauung. Etwas primitiv, naturwüchsig, das so­genannte Blutracheprinzip. Aber es braucht nicht immer das Blut des Uebelthäters selbst zu sein. Bei den Orientalen..."

Ach, Orientalen. . . dolle Gesellschaft..."

Nun denn meinetwegen, bei fast allen Völkern des Ostens sühnt Blut überhaupt. Ja mehr, nach orientalischer Anschauung ich kann das Wort nicht vermeiden, Herr von Molchow; ich muß immer wieder darauf zurückkommen nach orientalischer An­schauung stellt Blut die Unschuld als solche wieder her."

Na, hören Sie, Rektor."

Ja, es ist so, meine Herren. Und ich darf sagen, es zählt das zu dem Feinsten und Tief­sinnigsten, was es giebt. Und ich habe auch neulich erst eine Geschichte gelesen, die das alles nicht bloß bestätigt, sondern beinahe großartig bestätigt. Und noch dazu aus Siam."

Aus Siam?"

Ja, aus Siam. Und ich würde Sie damit be­helligen, wenn die Sache nicht ein bißchen zu lang wäre. Die Herren vom Lande werden so leicht ungeduldig, und ich wundere mich oft, daß sie die Predigt bis zu Ende mitanhören. Daneben ist freilich meine Geschichte aus Siam..."

Erzählen, Direktorchen, erzählen."

Nun denn, ans Ihre Gefahr. Freilich auch auf meine... Da war also, und es ist noch gar nicht lange her, ein König von Siam. Die Siamesen haben nämlich auch Könige."

Werden doch. So tief stehn sie doch nicht."

Also ein König von Siam, und dieser König hatte eine Tochter."

Klingt ja wie aus 'm Märchen."

Ist auch, meine Herren. Eine Tochter, eine richtige Prinzessin, und ei:: Nachbarfürst (aber von geringerem Stande, so daß man doch auch hier wieder an den Kandidaten erinnert wird) dieser Nach­barfürst raubte die Prinzessin und nahm sie mit in seine Heimat und seinen Harem, trotz alles Sträubens."

Na, na."

So wenigstens wird berichtet. Aber der König von Siam war nicht der Mann, so was ruhig ein- znstecken. Er unternahm vielmehr einen heiligen Krieg gegen den Nachbarfnrsten, schlug ihn und führte die Prinzessin in: Triumphe wieder zurück. Und alles Volk war wie von Sieg und Glück berauscht. Aber die Prinzessin selbst war schwermütig."

Natürlich. Wollte wieder weg."

Nein, ihr Herren. Wollte nicht zurück. Denn es war eine sehr seine Dame, die gelitten hatte ..."

Ja. Aber wie.. ."

Die gelitten hatte und fortan nur dem einen Ge­danken der Entsühnung lebte, den: Gedanken, wie das Unheilige, das Berührtem, wieder von ihr ge­nommen werden könne."

Geht nicht. Berührt is berührt."

Mit Nichten, Herr von Molchow. Die hohe Priesterschaft wurde herangezogen und hielt, wie inan hier vielleicht sagen würde, einen Synod, in den: man sich mit der Frage der Entsühnung oder, was dasselbe sagen will, mit der Frage der Wiederherstellung der Virginität beschäftigte. Man kan: überein (oder fand es auch vielleicht in alten Büchern), daß sie in Blut gebadet werden müsse."

Brrr."

Und zu diesen: Behuse wurde sie bald danach in eine Tempelhalle geführt, drin zwei mächtige Wannen standen, eine von rotem Porphyr und eine von weißen: Marmor, und zwischen diesen Wannen, auf einer Art Treppe, stand die Prinzessin selbst. Und nun wurden drei weiße Büffel in die Tempelhalle gebracht, und der hohe Priester trennte mit einen: Schnitt jedem der drei das Haupt von: Rumpf und ließ das Blut in die daneben stehende Porphyrwanne fließen. Und jetzt war das Bad be­reitet, und die Prinzessin, nachdem siamesische Jung­frauen sie entkleidet hatten, stieg in das Büffelblut hinab, und der Hohepriester nahm ein heiliges Gefäß und schöpfte damit und goß es aus über die Prin­zessin."

Eine starke Geschichte; bei Tisch hätt' ich mehrere

Gänge passieren lassen. Ich find' es doch entschieden zu viel."

Ich nicht," sagte der alte Zählen, der sich in­zwischen eingefunden und seit ein paar Minuten mit zugehört hatte.Was heißt zu viel oder zu stark? Stark ist es, so viel geb' ich zu; aber nicht zu stark. Daß es stark ist, das ist ja eben der Witz von der Sache. Wenn die Prinzessin einen Leberfleck gehabt hätte, so fänd' ich es ohne weiteres zu stark; es muß immer ein richtiges Verhältnis da sein zwischen Mittel und Zweck. Ein Leberfleck ist gar nichts. Aber bedenken Sie, 'ne richtige Prinzessin als Sklavin in einem Harem; da muß denn doch ganz anders vorgegangen werden. Wir reden jetzt so viel von ,großen Mitteln'. Ja, meine Herren, auch hier war nur mit großen Mitteln was auszurichten."

Igni 6t terro," bestätigte der Rektor.

Und," fuhr der alte Zählen fort,so viel wird jedem einlenchten, um den Teufel auszutreiben (als den ich diesen Nachbarfürsten und seine That durch­aus ansehe), dazu mußte was Besonderes geschehn, etwas Beelzebubartiges. Und das war eben das Blut dieser drei Büffel. Ich find' es nicht Zu viel."

Thormeyer hob sein Glas, um mit dem alten Zählen anzustoßen.Es ist genau so, wie Herr von Zählen sagt. Und zuletzt geschah denn auch glücklicherweise das, was unsre mehr auf Schönheit gerichteten Wünsche denn wir leben nun mal in einer Welt der Schönheit zufrieden stellen konnte. Direkt aus der Porphyrwanne stieg die Prinzessin in die Marmorwanne, drin alle Wohl­gerüche Arabiens ihre Heimstätte hatten, und alle Priester traten mit ihren Schöpfgelten aufs neue heran, und in Kaskaden ergoß es sich über die Prin­zessin, und man sah ordentlich, wie die Schwermut von ihr absiel, und wie all das wieder aufblühte, was ihr der räuberische Nachbarfürst genommen. Und zuletzt schlugen die Dienerinnen ihre Herrin in schneeweiße Gewänder und führten sie bis an ein Lager und fächelten sie hier mit Pfauenwedeln, bis sie den Kopf still neigte und entschlief. Und ist nichts zurückgeblieben, und ist später die Gattin des Königs von Annan: geworden. Er soll allerdings sehr aufgeklärt gewesen sein, weil Frankreich schon seit einiger Zeit in seinen: Lande herrschte."

Hoffen wir, daß Lillis Vetter auch ein Ein­sehen hat."

Er wird, er wird."

Darauf stieß man an und brach auf. Die Wagen waren bereits vorgefahrcn und standen in langer Reihe zwischen demPrinz-Regenten" und dem Triangelplatz.

Anch der Stechliner Wagen hielt schon, und Martin, um sich die Zeit zu vertreiben, knipste mit der Peitsche. Dubslav suchte nach seinen: Pastor und begann bereits ungeduldig zu werden, als Lo­renzen an ihn herantrat und um Entschuldigung bat, daß er habe warten lassen. Aber der Oberförster sei schuld; der habe ihn in ein Gespräch verwickelt, das auch noch nicht beendet sei, weshalb er vorhabe, die Rückfahrt mit Katzler gemeinschaftlich zu machen.

Dubslav lachte.Na, dann mit Gott. Aber lassen Sie sich nicht Zu viel erzähle::. Ermyntrud wird wohl die Hauptrolle spielen oder noch wahr­scheinlicher der neuzufindende Name. Werde wohl recht behalten. . . Und nun vorwärts, Martin."

Damit ging es über das holperige Pflaster fort.

Iie Assam DrcOls in gWWMM Lichte.

L. Meyer?,

Maienfeld bei Ragaz (Schweiz), 10. November 1897.

er Name Dreyfus ist jetzt in aller Munde, und jeder­mann weiß, das; er jenen: Unglücklichen angehört, der vom französischen Kriegsgerichte angeklagt und ver­urteilt wurde, weil er wichtige militärische Dokumente einer fremden Macht nnsgeliefert habe. Deportation für Lebens­zeit auf die Teuselsinsel war die Folge dieser Verurteilung.

Ein Hauptbeweisstück bei den Gerichtsverhandlungen bildete ein Verzeichnis ansgelieferter Dokumente, das viel­erwähntedorcwreau", das Drepsus geschrieben haben sollte. Mit Emphase ruft der Regiernugskommissar den Richtern ii: der Anklageakte zu:Dieses Schriftstück

stammt von der Hand des Generalstabsoffiziers Hanpt- mann Drepfns; der Kommandant Paly de Clan: hat es