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Ueöer Land und Meer.
«W. 10
bestätigt, die Herren Bertillon, Charavay und Tcysson- niores haben es ebenfalls bestätigt; ich erkläre, das; es von seiner Hand geschrieben ist, und Sie, meine Herren, Sie werden es ebenfalls erklären und diesen Mann verurteilen!"
^ L. <2-^—
Und so geschah es. Aber nicht alle jene, die sich für die Sache interessierten, waren ebenso fest überzeugt wie der Regiernngskoinmissar. Dreyfus hatte viele treue Freunde
und mit einein hochaugeseheuen, unabhängigen Mann an ihrer Spitze — Scheurer-Kestner in Paris — erreichten sie es jetzt endlich, die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt nochmals auf die Asfaire Treysas zu lenken, die der denkbar entsetzlichste Justizmord wäre, wenn es sich bestätigen sollte, das; Dreyfus ungerechterweise verurteilt worden ist. Es steht nun zu hoffen, das; der Prozeß noch einmal ausgenommen und gerecht durchgeführt werde.
Weder sein Vorleben noch seine Verhältnisse oder sein Charakter leiteten den Verdacht auf Dreyfus; er war ein unbescholtener Mann. Die Hauptargnmente gegen ihn bildeten obengenanntes Vorderem; und die Bemerkung eines ausländischen Militärattaches in Paris, der in einem chiffrierten Brief gesägt hatte: Veeickomout ecck animal ckoDrozckrw äovieick trop oxigoaut (Dieser Schafskopf von Dreyfus wird uns nachgerade zu anspruchsvoll).
Es ist klar, das; in betreff des fraglichen Bordereans, dessen Bruchstück hier in Clicho Nr. 1 reproduziert ist, die Graphologie ein gewichtiges Wort sprechen muß, namentlich
besaß und besitzt i^Michou und Cropieur-Jamin, und wo das Interesse für die graphologische Wissenschaft in die breitesten Schichten der Bevölkerung gedrungen ist.
Die Freunde und Angehörigen des Verurteilten haben denn auch Graphologen von Fach und Namen um ihr Urteil gebeten, und diese erklärten einstimmig, Dreyfus habe das Vorderem; nicht geschrieben. Das Clicho Nr. 2 giebt seine Handschrift wieder, wie sie 1890, also vor der Anklage, war.
Zwar ist eine gewisse oberflächliche Aehnlichkeit der beiden Schriftproben vorhanden, die wohl auf einem ähnlichen Bildungsgang und ähnlicher Lebensstellung, auf ganz im allgemeinen aufgefaßter Aehnlichkeit der Anlagen beruhen mag, allein geht man in die Einzelheiten ein, so findet man rasch so ausgesprochene Differenzen, daß man sich sagen muß: das kann die gleiche Hand nicht geschrieben haben. Der Leser beachte nur folgende Punkte:
1. Wie klar, fest, harmonisch, gleichmäßig, formenschön in vielen Buchstaben schreibt Dreyfus, und wie charakterlos, ungleich, sowohl in Bezug auf Höhe, Lage und Bildung der einzelnen Buchstaben als auch auf Linienführung und -Entfernung ist das Vorderem; geschrieben! Starken Versuchungen kann der Schreiber nicht gewachsen sein, Wahrheitsliebe , Ueberzengnngstrene, fester Mannesmut fehlen unbedingt bei solch einer schwachen, wechselvollen, unleserlichen Schrift mit den fadenförmig verlausenden Wortendungen und schlecht geformten, oft kann; augedeuteten Buchstaben. Wer so schreibt, ist ein Spielball äußerer Einflüsse, eigner Schwächen und Leidenschaften; er ist in nichts resistenzfähig, und hintendrein intrigiert er und kneift feige aus, um nicht zu seinem Thun stehen zu müssen. Gewissenlos verdächtigt er andre und läßt es ruhig zu, das; ihnen das entsetzlichste Unrecht geschieht, wenn nur er dadurch der verdienten Strafe entgehen kann.
In der Schrift Dreyfus' (Nr. 2) prägt sich dagegen ein
ganz andrer Charakter aus. Zwar hat auch er etwas von jener 6 uo 880 ck'o8prit, die den gebildeten Franzosen so häufig charakterisiert, und die ihn zum Diplomaten pur exeollonoo befähigt, die gescheit zu schweigen und — zu verschweigen weiß und andre mit ebenso viel Scharfblick durchschaut, wie das eigne Innere verschleiert (unleserliche Wortendnngen bei wellenförmiger Linienbasis); aber dabei ist er charakterfest, mutig, energisch; fest faßt er ein Ziel ins Auge, und zuversichtlich strebt er ihm entgegen; widerstandsfähig tritt er äußeren Einflüssen und Versuchungen entgegen — er ist ein harmonischer, sich stets gleichbleibender und daher zuverlässiger Charakter (klare, energische Schrift mit keulenartig verdickten Endungen namentlich in den Querstrichen, aufwärtsstrebende Linienrichtung und wenig schiefe, meist gleichmäßige Schriftlage und -Höhe. (Siehe die Bordereauschrift, fpeziell die Worte „Io äornior ckooumoutV.)
2. Bei Schristfälschungen, anonymen Zuschriften und hierauf bezüglichen Schriftvergleichungen geht der Graphologe stets von dem Grundsatz aus: die kleine;; Zeichen der Schrift sind die verräterischen, weil sie vom Fälscher an; wenigsten beachtet werden. Diese kleinen Zeichen sind An- und End striche, Punkte, Accente, Querstriche, Naumver- teilung, Ränder und so weiter. In diesen Punkten sind in den beiden Schriftproben, uu; die es sich hier handelt, merkbare Unterschiede vorhanden: Anstriche sind fast nur in Nr. 2 vorhanden, Nr. 1 umgeht sie zumeist; mit den Endstrichen verhält es sich umgekehrt. Die Punkte sind hier (Nr. 1) nieder, auffallend schwer, oft der Aus- für den nachfolgenden Buchstaben, oft fliegend gesetzt, niemals verbunden mit dem nachfolgenden Buchstaben. Die Accente-macht Dreyfus korrekt und am rechte;; Ort; im Vorderem; sind sie schlechtgeformte Punkte.
Die Querstriche sind bei Dreyfus stets lang, ansteigend, kenlenartig verdickt, wo sie in der Höhe liegen; am Fuße des Buchstabens bilden sie eine verknotete Schleife. Im Vorderem; zeigen sie alle möglichen Formen und Lagen; hie und da sind sie mit einem kleinen Häkchen versehen (Eigensinn); oft bilden sie einen leisen Bogen (Willensuufreiheit), und am Fuße des Buchstabens sind sie nie schleifeuartig verknotet (Beharrlichkeit, Konzentration, Ausdauer), sondern nur als Strich aus den Buchstaben heransgezogett. —
Dreyfus verteilt den Raum in geschmackvoller, geordneter Weise, und feine Ränder sind schön gleichmäßig gehalten , während dies alles im Vorderem; sehr unordentlich und vernachlässigt ist. Dreyfus ist offenbar ästhetisch gebildeter und auch in äußerlichen Dingen exakter und pünktlicher als der Verfasser des Bordereans. Dies allein ist ein gewichtiges Moment, denn eine so ansgesprochene Vorliebe für geordnetes Wesen nnd Genauigkeit, wie sie Dreyfus besitzt, muß sich überall zeigen, und sie hätte es auch in; Vorderem; gethau, wenn dieses von seiner Hand herrührte.
Es wäre noch mancherlei zu sagen über die Verschiedenheit einzelner Buchstabenformen, der Schristverbindung im Wortinuern nnd fo weiter, das Gesagte muß aber genügen,
Nur noch ein Wort über die Veränderung in der Schrift des Dreyfus vom Jahre 1890 (also vor Anklage und Verurteilung) bis zum Jahre 1895 (also nach derselben). Clicho Nr. 3 reproduziert einen Teil eines Briefes, den Dreysns von der Teufelsiusel aus an seine Frau geschrieben. Die Veränderung muß jedem, auch dem graphologisch ganz
weg. und mit dem ersten Schritt war auch schon die Hauptschwierigkeit überwunden, das einmal Vorgenommene führte er rasch und gut zu Ende; das einmal gesteckte Ziel wußte er zu erreichen, denn die Linie senkte sich zwar wohl hie und da an ihrem Anfang, stieg aber immer wieder gegen das Ende, und selbst die mehrsilbigen Worte zeigten oft diese Erscheinung. Jetzt ist das anders — die Linie senkt sich stetig, gegen ihr Ende hin mehr als am Anfang, wo sie sich noch manchmal zu erheben sucht; ein beinahe plastisches Spiegelbild des Ringens zwischen Furcht und Hoffnung der gequälten Seele, die sich immer noch nicht resigniert ergeben kann und will, dieses ewige, wellenförmige Aus- und-ab! Ganz hoffnungslos ist der Unglückliche noch nicht, aber die Energie ist gebrochen und die Widerstandskraft dahin; aus der Schrift sind Keulenendung und scharfe Winkel verschwunden. Ein halb eigensinniges Sich-festklammern an eine Idee oder Hoffnung liegt in dem kleinen Häkchen des Querstriches, aber es ist schwach entwickelt, und Zuversichtlichkeit und Freudigkeit fehlen dabei, denn die Schriftlinie ist gleichzeitig abfallend.
Der ganze Duktus von Nr. 3 zeigt überhaupt Gebrochenheit, seelische Zerschlagenheit im Gegensatz zu der Probe Nr. 2. Hierfür sprechen die nach rechts gewölbten Laugbuchstaben (ll in vupxroollout, 1 in llguro, 1 und so weiter), die vorwalteude Schwere nnd Unsicherheit in Kombination mit der sinkenden Schriftlinie.
Frei und sicher bewegt sich der Schreiber von Nr. 2 in der Welt, fest und ungehemmt tritt er auf; — voll innerer Unruhe, nervös, geniert, gehemmt, unfrei der von Nr. 3 (freier, schöner, zwangloser Schriftduktns dort — stets wechselnde Lage und Höhe der Buchstaben, gedrängte Schrift, aufeinander hinaufgeschobene Buchstaben, alle Zeichen von Unsicherheit hier).
gangspuukt dort leicht,
Ob Dreyfus schuldig oder nicht, die nächste Zukunft wird es hoffentlich erweisen! Eines ist sicher — er hat Entsetzliches durchgemacht, und er ist ein gebrochener Mann. Das zeigt dis Veränderung seiner Schrift schon dem Laien klar, noch viel deutlicher aber dem Graphologen.
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Nr. 2. Handschrift vom Jahre 1890. vor der Anklage.
Ungebildeten anffallen. Auch den „toten Buchstaben" sieht man es an, wie viel Leid in dem Zeitraum 1890 bis 1895 über den Unglücklichen hingegangeu ist. Wie hoffnungsfroh und sicher blickte er einst in die Zukunst! Wenn auch momentan Verstimmungen, Unlust zur Arbeit, Müdigkeit
(Line Rerchstagssihung.
Httchard Wordßausen.
voll beisammen. Für die Dauer eines Winters ist es ihnen noch vergönnt, die hastig schwingende Kurbel der Gesetzgebungsmaschine zu drehen, „nach Blaßgabe der Verfassung" dem politischen Leben auch ihres Geistes Spuren einzuprägen. Zum Glück sind die Winter bei uns zu Lande recht ausgedehnt, und der Volksvertreter hat hinreichend Zeit, sich mit Anstand auf den Verlust feines Amtes und der damit verbundenen Annehmlichkeiten vorzubereiten. Der nächste Sommer bringt dann, wenn nicht die Vorzeichen täuschen, ein andres, ein neues Geschlecht herauf. Steht doch eine Wahlschlacht von noch nie dagewesener Erbitterung bevor. Vielen von den jetzt Tagenden wird das Volk neue Wahlweihen verweigern, und „alle nicht, die wiederkehren, mögen sich des Heimzugs freuen". Benutzen wir darum die kurze Pause vor dem Schlußakt, um noch rasch einen Blick in das Wesen und das Getriebe des Parlaments am Berliner Königsplatze zu werfen.
Dem weißen Wallotschen Bau, so abfällig er auch aus hohem Munde beurteilt worden ist, wird doch keiner von den Intimen eins absprechen: die Wohnlichkeit, die kerndeutsche Behaglichkeit des Innern. Für einen in jeder Beziehung riesigen Stnatspalast, der das oft mißbrauchte Beiwort „monumental" wirklich verdient, ist das kein geringes Lob. Seine Würde und seine Höhe entfernen die