Heft 
(1898) 10
Seite
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Ueöer Land und Weer.

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Vertraulichkeit nicht: viel eher, als mau zu glauben geneigt war, haben sich die Abgeordneten und der ihnen und ihren Beratungen folgende große Troß heimisch in dem kunst- schönen Redeschlosse gesuhlt. Es ist besonders der Sitzungs­saal, der gleichzeitig den Eindruck des Feierlichen, Ernsten und des Anmutigen hervorrnft; so recht eine Stelle, an der sich gediegen raten und thaten läßt, ohne daß man sich zu genieren brauchte, einen mehr oder weniger burschikosen Witz abzubrennen. Aber seltsam während man im Prnnksaale des Wiener Neichsrates gar nicht erstaunt ist, wenn plötzlich die Wogen der Parteileidenschaft polternd aufbranden, rasendes Geheul von rechts und links den Raum durchtobt, überall geballte Fäuste und beinahe hand­greiflich werdende Gruppen sich zeigen, scheint die Wallotsche Architektur derlei wildtemperamentvolles Uebermaß zu ver­bieten. Man vermag sich zum mindesten nicht vorzustellen, daß diese bei aller Freundlichkeit vornehme, bei aller Pracht gut bürgerliche Stätte je zum Tummelplatz wüster Leiden­schaften, roher Ausschreitungen werden könnte. Nun, es ist wahr, unsre Parlamentarier tragen ihr redlich Teil dazu bei, daß schon das bloße Gemäuer solche Stimmung weckt. Und wir wollen hoffen, daß sie immer freundlich über dem hohen Hause schwebe.

Freilich, wer zum ersten Male eine Sitzung des Reichs­tags besucht, etwa als neugieriger, nach aufregenden Schau­spielen lüsterner Fremdling, den wird die kühle, gemessene Ruhe der Debatte zumeist etwas enttäuschen. Er hat viel­leicht vorher fleißig an Volksversammlungen teilgenommen und halb entsetzt, halb hingerissen zugehört, wenn sich die Widersacher mitleidlos zerfleischten, sich gegenseitig für die frivolsten Schurken auf Gottes Erdboden erklärten, für jedes Verbrechens fähige oder gar verdächtige Kumpane, aus deren Händen kein Hund ein Stück Leberwurst nehmen möchte. Aber er irrt, wenn er den lieblichen und nerven­stärkenden Ton der Wahlfeldzüge in das hohe Haus ver­pflanzt glaubt. Der Kandidat ist ein widerhaariger, un­angenehmer Geselle, der Herr Abgeordnete jedoch ein Mann von Welt und Takt, selbst wenn er auf der äußersten Linken sitzt. Der Kandidat giebt sich die erdenklichste Mühe, den Mitbewerber lächerlich zu machen, seine persönlichen Schwächen, auch die ganz verborgenen, ans Tageslicht zu ziehen, bis er in den Augen der eignen Familie als ein in­kommensurables Scheusal erscheint. Für den Herrn Ab­geordneten besteht das persönliche Gebiet so gut wie gar nicht. Er kennt nur die Sache, die Idee, kämpft für sie oder bekämpft sie; der Gegner an sich ist ihm gleichgültig. Mit Grauen und in unbeschreiblicher Verblüfftheit sieht der Neuling die zornmütigsten Speerschwinger miteinander plaudern; Eugen Richter unterhält den Grafen Kanitz, Singer erzählt Liebermann v. Sonnenberg einen neuen oder alten Witz, und Herr v. Liebermann, der für gute Späße ausgezeichnetes Verständnis besitzt, quittiert lachend. All diese Herren verkehren so urgemütlich und liebenswürdig miteinander, als gäb' es im deutschen Reichstag nur eine Partei; sie nennen sich Kollegen und fühlen sich als solche.

Ist man deshalb ein Pechvogel und gerät in eine der normalen Sitzungen des Reichstages, dann lohnt oft genug der Zeitaufwand die Mühe nicht, und man scheidet um eine grimme Enttäuschung reicher von Berlin. Statt der hochmögenden Herren Minister, die frei nach Oxenstierua die deutsche Welt regieren, sieht man am Tische neben dem Rednerpult schlichte, offenbar sehr gut unterrichtete und be­gabte, aber fürchterlich langweilige Kommissare. Im Saale fehlen gerade die Matadore, die kennen zu lernen und in ihrem Wirken zu beobachten mau so gespannt war; der Parlameutshimmel zeigt nur Sterne zweiten oder noch ge­ringeren Ranges. Und nun der Redner! Wie interessant dachte

sagt dasselbe^ was man zehnmal im Leitartikel gelesen hat, nur daß so ein Leitartikel zehn Minuten in Anspruch nimmt (nötigenfalls auch, was sich fast immer empfiehlt, ganz über­schlagen werden kann), während die Rede anderthalb bis zwei Stunden dauert. Hat der zurückgebliebene Mirabeau endlich seinen Spruch zu Ende gesagt, so markieren die Parteigenossen den üblichen Beifall. Zn den: Behnfe bleiben zwei oder drei von ihnen im Saale, und einer paßt sogar genau auf. Die andern beiden indes unterhalten sich zwar flüsternd, aber doch in der empörendsten Weise mit den Nachbarn. Die Gegner sind natürlich noch rücksichtsloser. Sie lesen und schreiben das sind die Harmlosen, oder sie führen laute Plandergespräche, daß es manchmal schwer wird, die Weisheiten des Mannes droben auf der Tribüne zu verstehen. Zuweilen, wenn der Rhetor seine Stimme erhebt, wenden sie ihm, höchst indigniert über die Störung, das Antlitz zu, dessen Anblick sie ihm bisher nicht vergönnt haben. Ist dann endlich das Pensum des ersten Redners erledigt, das erforderliche Bravo erschollen und im übrigen etwas wie ein Aufatmen durch den Raum gegangen, dann spinnt der Nachfolger, eine in noch weiteren politischen Kreisen unbekannte Größe, einen noch zäheren Faden. Immer leerer wird's im Saale. Wer im Hanse anwesend ist, sitzt in dem reizenden Kneipzimmer, pflegt seinen Leib und liest sein Leibblatt. Nach einer Stunde klingelt's. Das zeigt an, daß ein neuer Redner, vielleicht einer ans der Fraktion, das Wort ergriffen hat, um es so bald nicht wieder loszulassen. Man schlendert also in den Saal zurück, hört sich die Geschichte eine Minute lang an

und geht wieder. Schließlich läutet's zweimal: eine Ab­stimmung findet statt. Schnell stürzt mau deu letzten Schluck hinunter Gott sei Dank, eine Viertelstunde noch, und man darf nach Hanse gehen, im Bewußtsein, voll und ganz seine Pflicht gethan zu haben. Nicht alle thun ihre Pflicht. In diesem Berlin sind so viel Zerstreuungen wenn man da morgens aufsteht, ist es immer schon drei Uhr nach­mittags und die Sitzung ohnehin bald vorüber.

Mitunter läutet's in den Nebeurüumen dreimal. Dann ist etwas Besonderes, Ungewöhnliches passiert. Dies Klingel­zeichen läßt sich aber meist nur während dergroßen" Sitzungen vernehmen.

Ja, die großen Sitzungen! Wie anders wirkt dies Zeichen ans mich ein! Die Atmosphäre ist gewitterdrohend, mit Elektricität geladen. Die Galerien, die sonst ein ein­ziges Gähnen scheinen, solche Lücken weisen sie auf, sind heute überfüllt. Auch iu den Logen drängt sich Kopf an Kopf. Auf jeden: Gesichte prägt sich fieberische Erwartung aus. Und unten im Saale, welch Gewimmel und Ge­summe! Durch die Thüreu treten majestätisch die Partei­götter ein. Hie und da verweilen sie auf ihrem Wege, um dem oder jenem Vertrauten ein Wort zuzurufen. Diener mit Aktenstößen eilen hin und her. Schon ist der Tisch des Bundesrates dicht besetzt. Ter Präsident nimmt seinen Platz ein und durchblättert die Eingänge. Und dann öffnet sich zu seiner Rechten eine kleine Thür, Lichtschein fällt in den Saal der Reichskanzler ist erschienen. Von den konservativen Herrei: begeben sich einige zu ihn: und begrüßen ehrfurchtsvoll den obersten Beamten des Reiches ...

Die Sitzung ist eröffnet!"

Geschäftsmäßig, eintönig und unverständlich verliest der Präsident die Eingänge. Man hört ihn: heute noch un­aufmerksamer als sonst zu. Die kommende Sensation be­schäftigt alle Gemüter. Eifrig studiert Fürst Hohenlohe die vor ihn: liegende,: Akten; dann und wann neigt er den charakteristischen Kopf zu den: Staatssekretär an seiner Seite, um dam: zuletzt nachdenklich, wie teilnahmlos vor sich hin zu blicken. Man sieht nur noch das Haupt des alten Herrn mit den sorgenvolle!: Augen; der Körper ist fast ganz verschwunden.

Der Herr Abgeordnete IW. Lieber hat das Wort."

Herr I)r. Lieber spricht von: Platze ans. Langsam, jedes Wort streichelnd, im Vollgefühl der Macht, die er, der umworbene Zentrumsführer, hier ausübt. Er ist alles andre eher als ein hervorragender oder gar fesselnder Redner. Nene Gedanken fördert er nicht zu Tage, und auch die Form seiner Ausführungen entbehrt des Anziehenden. Er spricht ein arges Papierdeutsch. Dabei versteigt er sich gern zu hohem Pathos, das ihn: ganz und gar nicht liegt und regelmäßig ungewollt kölnisch wirkt. Herr IW. Lieber redet nicht nnr langsam, sondern auch lauge.Nur wer deu Lieber kennt, weiß, was ich leide!" citiert man im Reichstag. Nichtsdestoweniger hat er stets sehr aufmerk- same Zuhörer. Hundert Stimmei: trägt er in der Hand, das Zentrum giebt heute, wie so oft, den Ansschlag! Schließlich erhebt er seine nüchtern klingende,: wenig pastoral gefärbte Stimme inan weiß,er eilt zum Schlüsse". In den lebhaften Beifall seiner Parteigenossen stimmt die Linke ein, die den: Redner vorher schon wieder­holt mit aufmunternden Zurufei: ihre Wohlgeueigtheit zu erkennen gegeben hat.

v. Bennigsen, auch einer von denen, die wir nach dem Juni 1898 im Deutschen Reichstage nicht mehr Wiedersehen werden, begiebt sich zur Tribüne. Nicht wie in deu sieb­ziger Jahrei: als der eigentliche Chef des Hauses, nein, nur noch als Sprecher einer zusammengeschmolzeneu Partei, den: dazu jüngere Kräfte in den eignen Reihen das Leben sauer machen und den Parlamentarismus verleiden. Ata:: hört ihn nnr noch selten im Reichstage. Wie sich die Zeiten auch geändert Habei: er ist der alte geblieben. Einer jener Politiker, an denen die verflossene Vereinigte deutsche Linke in: Wiener Reichsrate solchen Ueberfluß hatte: mit staatsmänuischei: Allüren, von vornehmer Gesinnung, ein akademischer und doch interessanter Redner, der es liebt, über die rein politische Frage hiuausgeheud, einen höheren Standpunkt einzunehmen, alle Gebiete des öffentlichen Lebens, sogar Litteratnr und Philosophie, zu streifen. Formschön in: Ausdruck, sind seine Reden auch sonst trefflich gegliedert und elegant ausgelmut. Bennigsen würde zweifellos große Erfolge iu einen: Parlament geistvoller Professoren von Welt erzielen; für das Haus in seiner jetzigen Zusammen­setzung taugt sein feiner Stil und seine gemäßigte, tem­perierte Weisheit nicht. Nnr wenn nationale Angelegen­heiten zur Erörterung stehen, flackert es wie Feuer in seinen Worten auf, und dann weiß cr deu Brand schöner Be­geisterung auch in andre Seelen zu schlendern.

Zn den berühmtenbewegten Austritten", die jeder Parlamentsbesncher gerade während seiner Anwesenheit im Hanse mit solcher Gewißheit erwartet, daß ihr Ausbleiben ihn höchst unangenehm enttäuscht, zu lebhaften: Für und Wider geben die Reden IW. Liebers und Bennigsens nie Anlaß. Einmal gehören sie zu deu Mittelparteien, die schon von Geburt leidenschaftslos sind und keine Leiden­schaften entzünden; außerdem respektiert mau rechts wie links in Lieber deu mächtigen Condottiere, in Bennigsen den parlamentarischen Senior. Ganz andre Stimmungen

erweckt der Manu, der noch immer sozusagen das geistige Haupt der Linken ist, derewige Junggesell" Engen Richter. Er kennt seine parlamentarische Stellung, weiß, daß ihn: das Ohr des Hauses unter allen Umständen gehört, und daß er wie keiner die Kunst versteht, unverblümt aus­zusprechen, was andre nur eben zu denken wagen. So klein die Partei ist, die er ins Feld bringt, so groß steht

freilich nnr in: Reichstag selbst zu fühlenden, für die Außen­welt kann: noch meßbaren Kraft drückt sich deutlich in seiner Haltung, seinen Mienen, seiner Sprechweise aus. Er be­handelt die Neulinge, selbst wenn sie im Namen mächtiger Fraktionen reden, gern von oben herab; er vergißt nie, durch eine Geste, ein leicht hingeworsenes Wort zu betonen, daß er Eugen Richter, der alte, gewiegte, vielgenannte Parlamentarier, ist. Seii: ganzes Wesen atmet ruhige Sicherheit. Nichts in dieser Stimme, die der Bonhomie selbst augehören könnte, läßt auf deuewig gereizter:, ver­bissenen Nergler" schließen, als den ihn feine Gegner sehr zu Unrecht hinzustellen lieben. Die schneidendsten Sarkasmen, die verwegensten Angriffe bringt er mit der gleichei: un­erschütterlichen Selbstverständlichkeit und ironischen Ueber- legenheit vor.

Als sein Widerspiel in jeder Beziehung stellt sich der greise, weißköpfige Liebknecht dar, der allerdings in dem Augenblick, da diese Zeilen vor das Auge des Lesers ge­langen, als ein Opfer desäolus evsntualis" Quartier im Charlottenburger Amtsgerichtsgefünguis genommen hat. Aber für einerichtige", einegroße" Reichstagssitzung ist er unentbehrlich, und so führen wir auch ihn hier in Wort und Bild vor. Alles an den: Alten ist in ner­vöser, fieberhafter Bewegung, sobald er spricht. Der rechte Arm durchsägt unablässig in phantastischen Linien die Luft; die Gesichtszüge kommen keinen Augenblick zur Ruhe, und die Stimme wechselt beständig zwischen zornigem Donner, wildem Gekreisch und schwer, manchmal gar nicht zu verstehendem Gemurmel. Richter stachelt den Feind oft

verletzt er die parlamentarische Form; wenn Liebknecht redet, schallt es rechts regelmäßig:Zur Ordnung! Znr Ord­nung!" Und der Präsident sieht sich wirklich manchmal bemüßigt, dem Alten von: Kreuzberge ins Wort zu fallen und seinen: Grimme Zügel anzulegeu. Ein viel gewandterer und deshalb eindrucksvollerer Redner ist Bebel. Anch ihn: fehlt es wahrlich nicht ai: loderndem Temperamente, und wenn er zu guter Stunde, von Demosthenes' antiphilippi- schen: Geiste entflammt, seine furchtbaren Anklagen erhebt, dann erschüttert er nicht nnr die Seelen seiner Parteifreunde. Allerdings besteht seine rhetorische Laufbahn nicht nnr aus großen Momenten, und häufig genug gerät auch er, den: die leichtbewegliche Phantasie schnell mal durchgeht, und der Dichtung oft unbesehen für Wahrheit nimmt, dadurch aufs Glatteis. Aber das Haus hat ihm die kleiner: Schlappen und Fehlgriffe noch niemals lange uachgetragen, er wird sehr ernst genommen und erfreut sich ungleich größerer Aufmerksamkeit als irgend ein andrer Sozialdemokrat, mit alleiniger Ausnahme v. Vollmars, der sich indes nnr selten im Saale sehen läßt. Neben Bebel-Faust, den: strebenden und irrenden, nimmt sich Singer wie Wagner aus; was er sagt, und wie er es sagt, ist immer stilecht, nur eben leider im Stile destrockener: Schleichers".

Ten fleißigsten Redner des Reichstags darf sich zweifel­los Herr Nickert nennen. Man merkt es den: behäbigen Manu gar nicht au, wie stürmisch kampflustig, wie drauf­gängerisch er alleweil ist. Er meint's immer bitter ernst, und da fällt es den Gegnern aus der Rechtei: oft sehr schwer, ihrerseits ernst zu bleiben. Herr Rickert hat arg unter Zwischenrufen zu leiden, und einige Mitglieder des Hauses betreiben es fast als eine:: Sport, ihn, wie inan das nennt, zuverulken". Da die Qualität seiner Reden naturgemäß unter der Quantität ein wenig leidet, und da mau die von ihm mit Eifer entwickelten Ansichten aus der weit verbreitete!: Presse seiner Partei immer schon kennt, gilt es nicht für unerläßlich, während seiner oratorischen Gaben im Saale zi: bleiben.

An markanten Rednerphysiognomieu ist die Rechte ver­hältnismäßig weniger reich als ihre feindliche Schwester. In der Opposition gedeihe,: ja auch die Sprechtalente aus naheliegenden Gründen besser denn in: Lager der Negierungs­stützen, als die man unsre Konservativei: wohl trotz alledem ansprecheu mnß. Freiherr v. Manteuffel, der neben seinein Reichstagsmandat noch ein rundes Dutzend andrer Aemter versieht, entbehrt alssaturierter Edelmann" des froh be­geisterten Schwunges und der Kraft, andre an die Glut der eignen Ueberzeuguug glauben zu machen. Anch die Kunst des Vortrags, die des Redners Glück macht, mangelt ihn:; nicht zuletzt trägt daran sein näselndes, schnarrendes Organ schuld. Wie ein echter Grandseigneur, mit einem ganz leisen Hauch der Verachtung für die ihn: zuhörende Rotüre und envas pedantisch schulmeisterlich spricht Graf Mirbach, wohingegen Graf Kanitz die träumerischen Augen und anch die Redeweise des Joeologen hat, der ruckweise die Gedanken zu Tage fördert. Unter den Frei- konservativen ragen v. Stumm, der Bestgehaßten einer, und der geistvolle v. Kardorfs hervor. Auch der Redner Stumm liefert vollgültige Beweise für deu Eiseukopf dieses LeU-nlucko mnn; da ist alles bestimmt, derb, fast