M 12
Ueber Land und Weer.
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Stunden noch hell und klar und hoffnungsvoll gewesen, schien ihm durcheinander gekommen. Nirgend Anfang und Ende. Er wußte gar nicht mehr, wie er das Leben anpacken sollte. Dazu that er sich selber leid, wie als Kind, wenn ihm irgend ein frecher Bursch sein bestes Spielzeug weggenommen hatte.
Von der Höhe der Terrasse sahen sie auf den Strom hinab. Er war noch gewachsen seit neulich, als Hubert ihm von den Hungersteinen erzählt hatte. Wieder dachte er, daß Regen und Schnee und alle Bäche und Flüsse so einem mächtigen Ungeheuer tributpflichtig seien. Daß Naturgesetze sie ihm zutrieben, alle, alle, und daß dies Ungeheuer, genährt mit ihrem Leben und ihrer Kraft, immer stolzer und gewaltiger seinem Ziel, dem Meere, znströme.
Ganz ebenso, auch wie dem Zwange einer Naturgewalt folgend, waren die Berghauers heut wieder in Huberts Bann geraten.
Und er selber, wie sehr er vielleicht Grund hatte, ihm zu zürnen, er that's nicht. Zornig, widerwillig und doch bezwungen, bewunderte er ihn.
„Hubert," sagte er, während sie langsam, an den goldfunkelnden Gruppen der .Tageszeiten' vorüber, die breite Treppe Hinabstiegen zum Schloßplatz, „was meinst du, gehn wir noch ein Stündchen zu Johanna?"
Hubert sah ihn an, als käme er eben von irgend einem Fixstern aus die Erde zurück.
„Sieh mal, zum Arbeiten hat man doch keine Stimmung mehr heut abend. Und dann — sie würde sich so freuen — du mußt ihr doch erzählen. . "
„Wer würde sich freuen?" fragte Hubert auf
einmal mißtrauisch und finster.
„Johanna natürlich."
„Johanna?" Tief verwundert klang die Frage, so, als müsse er lange in seinem Gedächtnis nach einer Johanna suchen.
„Nein," sagte er dann, langsam den Kopf schüttelnd. „Ich arbeite noch. Aber geh du. Grüße sie von mir. Adieu!"
Und als lasse es ihm keine Ruhe, bis er nicht
wieder vor seinem Schreibtisch säße, gab er ihm
flüchtig die Hand und ging mit schnellen Schritten der Brücke zu.
Karl Wedekind stand einen Augenblick ganz verdutzt über den plötzlichen Abschied. Dann schleuderte er unschlüssig weiter, an der Hofkirche vorüber, die sich seltsam ausnahm mit all ihren weißbeschneiten Heiligen und dem barocken Turm. Er hatte das Gefühl, daß Johanna ihm heut abend gutthun würde. Er sehnte sich nach ihr wie nach seiner Mutter. Und ehe er's wußte, stand er vor dem kleinen Laden in der Marienstraße.
Es war schon alles dunkel, die Holzjalousien geschlossen. Aber aus dem Stubenfenster schimmerte Licht.
Er mußte durch den Hausflur und an der Hinteren Thür klingeln, die zu ihrer Wohnung führte. Es war dort fast ganz finster. Der Winkel lag hinter der Treppe, und das Licht reichte nicht bis hierher.
Nach einer Weile wurde geöffnet.
„Hubert!" rief Johannas Stimme in einem durchdringenden, von Freude förmlich gesättigten Flüsterton.
Karl zog den Hut, tieferschrocken über ihren nur zu begreiflichen Irrtum. Sie hatte diesen auch im nächsten Augenblick schon eingesehn und flüsterte beschämt: „Verzeihen Sie, Herr Doktor!"
„Ja, leider bin ich es nur," murmelte Karl. „Aber ich bringe Ihnen Grüße von Hubert. Er ist heut wieder ,drüber', wissen Sie. Da darf man nichts von ihm verlangen."
„Ach nein," sagte sie leise, und ein schwerer Seufzer drängte sich aus ihrer Brust. „Ich bin ja die Letzte. . . wenn er arbeiten kann..."
Sie schloß die Thür hinter ihm. Er stand in einer kleinen, einfachen Küche. Ein grelles Lämpchen beleuchtete allerlei Blitzendes. Nun hob sie warnend den Finger an die Lippen: „Bitte, leise! Felix schläft!" hauchte sie ihm zu. Das Lämpchen mit der Hand schützend, ging sie ihm auf den Zehenspitzen voran durch das armselige Schlafkämmerchen. Nur das Notwendigste war darin, ihr Bett, mit einer weißen Decke verhüllt, und des Kindes kleines Lager.
Daran konnte sie aber nicht vorübergehn, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Der blonde Lockenkopf mit den schlafroten Bäckchen, auf denen die langen Wimpern wie zarte Schatten lagen, schien unruhig zu träumen. Er hatte die kleine Stirn in Falten gezogen, und um den Mund lag es wie Trotz und Schmerz. Die Aehnlichkeit mit Hubert war Karl noch niemals so zum Bewußtsein gekommen.
Sein Kind. . . sein Weib! dachte er. Und es war ihm förmlich, als würde das Herz ihm leichter. Ja, er wußte jetzt, warum es ihn Hergetrieben hatte. Das hatte er sich recht eindringlich zu Sinne führen wollen.
Und dann saßen die beiden ganz gemütlich nebeneinander auf dem Sofa in der Wohnstube. Johanna hatte nicht geruht, bis er nicht Huberts Platz eingenommen hatte. Sie strickte, und die Nadeln klapperten in ihren mageren weißen Fingern. Im eisernen Ofen glühten die Kohlen und sanken von Zeit zu Zeit mit leisem Gepolter in sich zusammen. Es duftete wieder nach Aepfeln. Die weiße Tischdecke- glänzte, nirgends lag ein Stäubchen.
Mit wie wenigem weiß sie es traulich zu machen um sich her, dachte Karl bewegt. Die, in Glück und Ansehn, mit ihrem feinen Herzenstakt, der hundertmal mehr wert ist, wie die Dressur unsrer „höheren Töchter" — was kann denn Hubert sich Besseres wünschen!
Da fragte sie gerade nach ihm.
„Haben Sie ihn lange nicht gesehn?" fragte er zurück.
Sie zögerte mit der Antwort. Dann sagte sie: „Die ganze Woche nicht." Und dabei erglühte sie über und über aus Scham, daß er sie so vernachlässigt hatte. Ihre Stimme hatte leicht gezittert.
Sie that ihm bitter leid. „Er wohnt so weit," sagte er, als könne ihn das entschuldigen.
Sie ließ die Nadeln sinken und blickte in die Lampe.
„Natürlich, das ist's ja," sagte sie vor sich hin. Ihre Lippen zuckten leise. „Sehn Sie, das war früher ganz anders. Da hatte er im Nebenhause sein Zimmer. Und zu allen Mahlzeiten kam er herum, und ich kochte das Kräftigste und Beste. Es hat ihm ja auch immer so gut geschmeckt," fügte sie mit einem glücklichen Lächeln hinzu. „Und wenn er nicht arbeiten konnte, so kam er doch und spielte mit dem Kleinen, und wir schwatzten zusammen. Er hatte doch einen Menschen um sich, der ihn verstand. Wenigstens" — und wieder huschte es rosig über ihr Gesicht — „hat er sich immer gewundert, wie gut ich ihn begriff. Wenn ich auch nicht viel gelernt habe — ich war ja selber erstaunt, wie mir so allmählich die Lichter aufgingen. Aber dann zog er fort. Er sagte, die ,Familiensimpelei' lenke ihn ab. Auch wollte er meine ,Wohlthaten' nicht länger annehmen . .. lieber Gott! Als wenn er mir nicht größere Wohlthaten erwiesen hätte mit seinem Kommen. ."
Sie brach plötzlich ab und preßte die Lippen fest zusammen. Auf den rosigen Kinderstrumpf fiel ein Tropfen.
„Johanna," sagte Karl etwas unvermittelt, „das Neueste wissen Sie ja noch gar nicht."
Sie fuhr sich wie zufällig mit dem Handrücken über die Augen und versuchte zu lächeln. „Das Neueste?" Es kam ein bißchen besorgt heraus, als sei sie's nicht gewöhnt, gute Neuigkeiten zu hören.
Karl Wedekind erzählte.
Johannas fleißige Hände sanken in den Schoß. Ihre Augen erweiterten sich, und ihre ausdrucksvollen Züge spiegelten alle Seelenregungen vom ersten ungläubigen Staunen bis zur Hellen Glückseligkeit über die hoffnungsvolle Botschaft rührend wieder.
Hubert hatte einen Freund gefunden, einen Gönner, einen einflußreichen, thatkräftigen Verehrer!
Doch bald kamen dieser des Glückes so ungewohnten Seele wieder allerlei Bedenken.
„Aber es ist so schwer, Hubert zu helfen. Und dann — er stößt seine besten Freunde so leicht vor den Kopf. Sie wissen's ja selbst, Herr Doktor."
„Ja," nickte Karl, gedankenvoll an seinem rötlichen Schnurrbart zerrend. „Aber — na! Ein Mensch wie der Berghauer, der den Leuten bis in die Eingeweide sieht... Ueberhaupt, nicht wahr, wenn man so den Zusammenhang kennt — Herrgott ja! Man ärgert sich mal! Aber man denkt
doch: Menschen! Jeder hat seinen Sparren, seine ,Hungersteine'."
Er wunderte sich selbst, wie ihm das Wort in den Mund gekommen war. Mußte er denn immer Huberts Gedanken nachbeten?
Johanna lächelte. „Kennen Sie die auch? Hat Ihnen Hubert erzählt? Und Sie meinen, daß der Herr Konsul..."
„Verlassen Sie sich drauf! Dem kann der Hubert meinetwegen die impertinentesten Gesichter schneiden oder die größten Grobheiten an den Kopf werfen — das rührt den nicht. Das ist er schon längst gewöhnt. Wecks wirklich gut meint mit den Menschen — o je, Johanna, was muß der sich alles gefallen lassen!"
Karl Wedekind fuhr sich, als er an all die bösen Erfahrungen dachte, die seine eigne Menschenliebe ihm schon eingetragen hatte, mit zorniger Gebärde durchs Haar. Das sah so komisch ans zu seinem gutmütigen, harmlosen Gesicht, daß Johanna leise lachte.
„Sie guter Mensch!" sagte sie. Dann schien ihr etwas durch den Kopf zu gehen. „Und eine Tochter, sagten Sie, ist aüch da?"
„Zwei sogar," antwortete er. Seine eignen Gedanken hatten auch eben bei Lolo geweilt, voll Kummer und Unruhe. Und um sich nicht zu verraten, scherzte er: „Sie sind doch nicht eifersüchtig?"
„Nein," sagte Johanna ernst, „dazu habe ich kein Recht."
„Nun, ich dächte doch!" fuhr er auf.
„Früher, ja," sagte sie leise. „In Göttingen besonders, da bin ich furchtbar eifersüchtig gewesen. So ein schöner Mensch, und als Dichter — das darf ich ihm ja nicht übelnehmen ... wenn er nur ein schönes Gesicht sieht, ist er begeistert..."
„Natürlich, natürlich!" bekräftigte Karl. Innerlich aber erboste er sich gewaltig, daß sie Hubert auch noch recht gab, wenn er ihr untreu wurde, auch nur in Gedanken.
„Ich bin ja nicht hübsch genug für ihn," sagte sie ruhig, „und nicht klug und nicht gebildet genug."
„Oho!" warf er ein.
„Aber etwas Hab' ich doch, das keine Frau der Welt besser haben kann: meine Liebe für ihn. Und die ist doch schließlich auch was wert."
„Na, ich dächte!" brummte er gerührt.
„Und da Hab' ich manchmal gedacht, wenn er mir schrieb, daß ein Mädchen ihm gefiele — Sie wissen wohl, als ich in Leipzig war, haben wir zwei Jahre lang korrespondiert — du darfst ihn nicht an dich ketten, Hab' ich gedacht. Er ist zu Höherem berufen. Ich wär' auch viel zu stolz, um einen festzuhalten, der nichts mehr von mir wissen will. Und das Hab' ich ihm damals oft gesagt. Er wollte aber nie etwas davon hören."
Karl Wedekind betrachtete sie, wie sie das alles so still und zuversichtlich vor sich hin sagte. Und was ihm noch vor ein paar Stunden den Kopf heiß gemacht hatte, erschien ihm jetzt wie ein bunter Fiebertraum.
,Sie ist seine Frau,' dachte er. ,Das wäscht ihm kein Regen ab. Und wenn er mal zu Gelde kommt, er wäre ja der gemeinste Lump, wenn er sie nicht heiratete!'
„Und jetzt," sagte Johanna, wandte den Kopf nach der Kammerthür und nickte, „seit der da drin auf der Welt ist, ich thäte Hubert ja das schwerste Unrecht an, wenn ich eifersüchtig wäre oder ihm gar zutraute —"
Sie sprach nicht zu Ende. Aber ihr Gesicht war ganz hell und heiter.
,Und ich,' dachte Karl Wedekind, ,wäre im stände und schlüge ihm alle Knochen im Leibe entzwei, wenn er dir dein Opfer nicht lohnte, wie du's verdienst, armes Weib!'
Seit ein paar Wochen lebte Hubert in einer Weltentrücktheit, die ihn Tag und Nacht, Essen und Trinken, sein kaltes Zimmer und sein sorgengehetztes Dasein ganz vergessen ließ.
Als er an jenem Abend nach Hause gekommen war, hatte er sich kaum Zeit genommen, den guten Rock mit der alten Joppe zu vertauschen. Dann saß er an seinem Schreibtisch. Die Nacht hindurch brannte seine Lampe, seine hageren Hände hasteten in fliegender Eile über das Papier. Erst als gegen