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Sie ging zu ihr heran und strich ihr über die gelbliche Wange. „Tantelchen, ich bin nun mal so."
„Kind, ich meine auch nur: nicht mit jedem."
„Doch, Tante, wenn es ein ehrenhafter Mensch ist
„Das ist's ja gerade, Lotte. Jeder andre. Aber den hast du erst ein einziges Mal gesehn."
„Ich kenn' ihn lange."
Tante Sophie schwieg so beredt, als verschweige sie die unheimlichsten Dinge. Lotte aber bemerkte nichts. Sie sah durchs Fenster in den Garten mit einem großen, ernsten Blick.
„Sieh mal, Kind," fing Tante Sophie endlich diplomatisch an, „ich möchte dir ja deinen ,Dichter' nicht verleiden."
„Nein, Tante, thu's nicht," sagte sie leise und bittend.
„Und es ist ja am Ende bloß Phantasterei bei dir. Dein Vater — wenn von deiner Erziehung die Rede war: ,Einsicht, Klarheit, Verstand und Charakter bilden! Das Gefühl kurz halten, beschneiden!' Wenn man ihn so hörte, so war bei uns Frauen die Sache, seit die Welt besteht, verpfuscht worden. ,Sie sangen alles mit dem Gefühl an? Das hast du ihn ja selber oft genug sagen hören."
Lotte nickte gedankenvoll.
„Und deshalb durftest du keine Backfisch- und Liebesgeschichten lesen wie andre junge Mädchen. Bloß immer Sachen, die den Verstand bildeten. Und um Gottes willen keine Lyrik, nichts Süßes. Bloß die Gedichte von dem Schwarz. Die machten eine Ausnahme. Weil sie eigentlich gar keine sind, nach meinem Geschmack wenigstens. Und weil sie eben das erste derartige für dich sind, so haben sie dir einen ungeheuren Eindruck gemacht. Und da bildest du dir natürlich ein, der ,Dichter' müßte nun auch ein wahrer Jdealmensch sein."
„Tante," sagte Lotte gequält, „was soll denn das alles?" Sie machte Miene, nach der Thür zu gehn.
„Noch einen Augenblick, mein Kind. Siehst du, so klug du bist — mit deinem Verstände bist du ja gut und gern dreißig und als Künstlerin vielleicht noch älter — aber was bei dir zurückgeblieben ist, Lottchen, das Beste, was wir Frauen haben: das Herz, das ist bei dir noch so unreif wie bei einem vierzehnjährigen Mädchen. Und siehst du, deshalb denk' ich, du guckst dir dein ,Ideal' erst mal ein bißchen genauer an. Es ist dir vielleicht im Augenblick unangenehm, wenn dein Held sich als ein sehr irdischer Mensch entpuppt — aber es ist lehrreich —"
Charlotte hatte mit wachsender Unruhe zugehört. Sie war rot und blaß geworden. Jetzt atmete sie tief. „Nein, Tante," sagte sie fest, „laß es! Etwas Schlechtes erfahre ich immer noch früh genug."
Sie nahm ihre Sachen auf. „Ich muß die Pinsel noch waschen und mich zu Tisch ein bißchen zurecht machen. Es muß ja gleich Zeit sein."
Die Jugend! dachte Frau von Nienstedt, ihr kopfschüttelnd nachblickend. Da möchte man ihr nun eine Dummheit ersparen . . . aber alle ihre Erfahrungen will sie selber machen.
Lotte stieg langsam die Treppe empor zu dem kleinen Reich der beiden Schwestern.
In dem nach Süden gelegenen großen, luftigen Erkerzimmer hauste Kläre. Vor den Fenstern eine berauschende Pracht blühender Pflanzen. Unmengen von Nippsachen und Photographien — die besonders geliebter Freundinnen oder schöner Theaterhelden mit gemachten Blumen bekränzt. Wunderbar unpraktische und mühsame Handarbeiten, wie sie die Mode- zeitungen bringen für Leute, die absolut nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, hingen als Bilderrahmen, Wandteller, Mappen, Körbchen an den Wänden, lagen als Deckchen über Tisch, Stühlen, Sofa.
Die Sonne schien wie liebkosend über all den bunten, blühenden, blitzenden Tand. Ein Kanarienvogel schmetterte ein stürmisches Frühlingslied. Auf dem langhaarigen Bärenfell streckte sich in seliger Faulheit der Weiße Seidenspitz, an den Kläre, in Ermanglung eines würdigeren Gegenstandes, ihren ganzen Ueberschuß von Zärtlichkeit verschwendete. Er hob nur leise den Kops, als Lotte an der offenen Thür vorüberging, und kläffte kurz auf. Dann, nach
Ueöer Land und Meer.
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einem tiefen Seufzer, streckte er sich desto wohliger und ließ die Sonne auf sein Fellchen brennen.
In Lottes Zimmer herrschte ein andrer Geist. An dem breiten Fenster stand ihre Staffelei. Die Wände von oben bis unten mit Studien ohne Nahmen bedeckt. Ein paar Büsten und Statuetten, ein Muskelmann und eine Gliederpuppe zwischen den notwendigen Möbeln. Der Marmorkopf eines sterbenden Sklaven von Michelangelo — an dem sie sich nie sattsehn konnte — hatte den besten Platz erhalten, der Chaiselongue gegenüber, die neben dem kleinen vernickelten Ofen in einem gemütlichen Winkel stand. Hier, das mächtige Eisbärenfell zu ihren Füßen, ein paar große, üppige Atlaskiffen unter dem Kopf, ruhte sie aus, nach der Arbeit, wenn der Körper versagt und der Geist gespannt' ist zum Ueberströmen von der eignen Fülle.
Wenn sie so in der Dämmerung, die Arme unterm Haupt gekreuzt, zur Decke starrte oder umherblickte 'an den Wänden — überall in ihren Bildern ein Stück Leben, ein Fortschritt, ein Mißlingen, harter Kampf, Hoffnung und Znkunftstraum — dann war sie glücklich gewesen, so ganz für sich. Sie brauchte die Einsamkeit, ihre eigne, ungestörte Gesellschaft. Die Welt draußen, die Menschen, die waren gewiß interessant. Das Wunderbarste aber war sie doch sich selbst. Sie bereitete sich selbst immer die allergrößten Ueberraschungen und war eigentlich von Tag zu Tag neugierig daraus, was sie innerlich erleben würde.
Als sie jetzt wieder eintrat, mußte sie erst ein beklemmendes Gefühl überwinden. Es war etwas Fremdes in ihr, sie fühlte es deutlich hier in dieser vertrauten Umgebung.
Sie hing ihre Sachen auf und klingelte nach heißem Wasser. Dann begann sie sorgfältig und langsam ihre Pinsel zu reinigen. Das überließ sie nie dem Mädchen.
Einen Augenblick bedauerte sie's, daß sie die Tante nicht hatte hören wollen. Was mag sie meinend Was mag er selber gemeint habend Irgend etwas mußte da nicht in Ordnung sein. Von „jammervollen Verhältnissen" hatte er gesprochen, von seiner „ungestümen Natur" . . . Aber dann hatte er gesagt: „Vergessen Sie nicht, ich bin ein Mensch ... ich habe das Beste gewollt —"
Nein! Sie wollte es nicht vergessen. Wer weiß, was ihm die klatschsüchtige Gesellschaft zum Vorwurf machte! Vielleicht steckte er in Schuldend Ach, sie wollte gar nichts hören. Wie viel wird zusammengelogen !
Er war ja ein edler Mensch, eine von den seltenen Naturen, die hart an sich arbeiten. Das sind die besten.
Sie nahm seine Gedichte und blätterte darin.
Ja, sie wollte an ihn glauben.
Dann fing sie an, Toilette zu machen. Aber es war ja alles in Ordnung, bloß das Haar noch ein bißchen überstreichen. Und dann noch einen Augenblick ruhen! Sie warf sich aufs Sofa. Eine plötzliche Verzagtheit überkam sie, die Lust zu weinen. Aber sie verbiß es und dachte, dachte.
,Dein Herz ist zurückgeblieben im Wachstum', hatte die Tante gesagt. War denn das sod
Ja, sie war nicht wie die jungen Mädchen, die sie kannte. Die begeisterten sich für jeden hübschen, schnurrbärtigen Kavalier und dachten fortwährend ans Heiraten. Sie hatte immer nur den Kameraden im Manne gesucht. Imponiert hatte ihr noch kein einziger. Deshalb hatte sie sich auch nicht verliebt.
Ueberhaupt — das wirkliche, reale Leben hatte sie bisher bloß so mit in den Kauf genommen. Es verstand sich von selbst, daß sie aß, trank, sich ankleidete, spazieren ging und gelegentlich sich amüsierte. Aber das war ja alles so nebensächlich.
Wenn die Schneiderin ihr ein Kleid verpaßt hatte, eine schöne Fahrt verregnet oder sonst ein Malheur passiert war, was andre ganz aus dem Häuschen brachte — das nahm sie ganz philosophisch auf. Ließ aber vielleicht ein Modell sie im Stich, ging ihr eine Farbe aus mitten in der Arbeit, wollte ihr irgend etwas nicht glücken, so konnte sie weinen aus Heller Verzweiflung.
O ja, sie hatte ihre Anfechtungen, ihre Stürme, ihre Wonnen, tausendmal tiefer als andre, in ihrem zweiten, ihrem eigentlichen Leben.
Deshalb mußte sie sich aber die schöne, heitere
Leichtigkeit und Freiheit des Gefühls erhalten. Wenn etwa ihr „Herz" auch noch anfangen wollte Zu rumoren — das fehlte noch!
Ein paar Tage lang nach Huberts Besuch hatte es sich derartiges einfallen lassen. Aber sie hatte sich an eine Arbeit gemacht, vor der sie immer ein bißchen bange gewesen war, sehr viel kniffliche Perspektive.
Und siehe da, als alle Schwierigkeiten überwunden waren, hatte sie ihre „olympische" Ruhe wieder.
Das dachte sie, als sie die Treppe Hinabstieg, beim Läuten der Tischglocke.
Nach dem Essen saß man im Zimmer des Konsuls beisammen. Bei Zigarre und Mokka plauderte sich's am gemütlichsten.
Tante Sophie strickte an einem bunten Kopfshawl von feinster Wolle — eine Arbeit, die trotz ihres Fleißes auf ein Jahr berechnet gewesen und jetzt beinah' vollendet war.
Kläre hatte eine zierliche Kleinigkeit vor, mit Goldfäden und loser Seide — ein Geburtstagsgeschenk für eine ihrer vielen Freundinnen.
Lotte that nichts. Sie that in Gesellschaft nie etwas; sie ruhte sich, sah und hörte. Die Hände ums Knie gefaltet, lauschte sie dem Gespräch anscheinend sehr aufmerksam. Man war es an ihr gewöhnt, daß sie in ihrer lebhaften, heitern Art in die Unterhaltung Angriff. Heut fiel ihre Einsilbigkeit ihrem Vater ein paarmal auf. „Fehlt dir etwas?" fragte er. Aber sie lachte ihn aus.
Onkel Friedrich, ein Vetter Berghauers, war ein kleiner, hagerer Herr mit einem mächtigen Schädel. Er schien immer aus dem Katheder zu stehn und seine scharfaccentuierten Reden auf weite Entfernungen zu berechnen. Er war die Würde und Feierlichkeit in Person. Niemals hörte man ihn scherzen.
Kläre hatte ihn Onkel „Uebrigens" getauft, weil er dies Flickwort besonders häufig anweudete. Sie war immer in Gefahr, ihm ins Gesicht zu lachen. Denn sein gemachtes Pathos und sein unerschütterliches Selbstbewußtsein schienen ihr neben dem natürlichen Wesen ihres Vaters zu drollig.
Uebrigens war sie sein Liebling, während Lotte gar nicht in sein System paßte. Er hielt ihre Erziehung für vollkommen verfehlt.
„Guter, ehrlicher Kerl — aber Scheuklappen," pflegte Berghauer von ihm zu sagen.
Allerlei Gesprächsstoffe waren schon in der sried- samen Stimmung abgehandelt worden, die den Menschen nach einem guten Mahle überkommt. Onkel Fritz zündete sich eben die dritte Zigarre an und sog fast andachtsvoll das köstliche Aroma in die imposante Nase.
„Uebrigens," sagte er dabei in kurzen Absätzen, „übrigens hat mir Sophie zu meinem Erstaunen mitgeteilt, daß du — respektive ihr — die Bekanntschaft dieses — äh — Litteraten Schwarz gemacht hättet —"
Der Konsul zwirbelte an seinem Bart, um ein Lächeln zu verstecken. „Na," meinte er gutmütig, „könntest für den Mann am Ende wohl 'ne andre Vokabel ausfindig machen."
Der Professor nickte, langsam die nah zusammenstehenden Augen schließend und wieder öffnend. „Einerlei. Lassen wir übrigens die Frage — die nicht gerade wesentlich ist — äh — offen."
„Jawohl, lassen wir sie offen," brummte Berghauer voll Humor. Er warf unwillkürlich einen Blick auf Lotte, seine Gesinnungsgenossin. Aber sie achtete nicht auf ihn. Blaß, unruhig, voll Spannung sah sie zu Onkel Fritz hinüber.
„Hubert Schwarz ist unser Freund," fuhr der Konsul nachdrücklich fort.
„Freund?" wiederholte der Professor, die buschigen Augenbrauen unwillig in die Höhe ziehend. „Ich meine, Freund darf man mit vollem Recht nur jemand nennen, mit dem man sich wenigstens in den Grundanschauungen des Lebens völlig eins weiß."
„Na also! Stimmt ja. Kennst ja mein Credo: ehrliches Streben, anständige Gesinnung. Alles andre Quark."
„Hm — ich weiß ja allerdings, daß du sehr frei denkst — politisch sowohl wie in Rücksicht auf die Moral —"