222
Weber Land und Weer.
^ 14
„Jott, Herr Major, das is es ja eben. In diesem Schoß der Familie, da is es ja gerad' am schlimmsten. Und sogar in dem jüdischen Schoß, der doch immer noch der beste war."
„Beispiele, Uncke, Beispiele."
„Da haben wir nu hier, um bloß ein Beispiel zu geben, unsern guten alten Baruch Hirschfeld in Gransee. Frommer alter Jude..."
„Kenn' ich. Kenn' ich ganz gut, beinah' zu gut. Nu, der hat 'nen Sohn und niit dem is er mitunter verschiedner Meinung. Aber dagegen is doch nicht viel zu sagen; das is in der ganzen Welt so. Der Alte hängt noch am Alten und der Junge, nn, der is eben ein Jungscher und bramarbasiert ein bißchen. Ich weiß nicht recht, zu welcher Partei er sich hält, er wird aber wohl für Torgelow gestimmt haben. Nu, mein Gott, warum nicht? Das thun jetzt viele. Daran muß man sich gewöhnen. Das is eben das Politische."
„Nein, Herr Major. Herr Major wollen ver- zeihn, aber bei diesem Isidor is es nich das Politische. Komme ja jeden dritten Tag hin und seh' den Alten in seinem Laden und höre, was er da redt und redt. Und der Junge redt auch und redt immer ,von 's Prinzip'. Das Prinzip is ihm aber egal. Er will bloß mogeln und den Alten an die Wand drücken. Und das ist das, was ich daS Zweideutige nenne."
Armgard, Woldemar und Tante Adelheid hatten die Mitte genommen. Als sie bis in die Nähe der Seespitze gekommen waren, immer unter einem verschneiten Buchen- und Eichengange hin, wurden sie durch ein Geräusch wie von brechenden kleinen Aesten aufmerksam gemacht, und ihr Auge nach oben richtend, gewahrten sie, wie zwei Eichhörnchen über ihnen spielten und in beständigem Sich-Haschen von Baum zu Baum sprangen. Die Zweige knickten, und der Schnee stäubte hernieder. Armgard mochte sich von dem Schauspiel nicht trennen, lachte, wenn die momentan verschwundenen Tierchen mit einem Male wieder zum Vorschein kamen und gab ihre Beobachtung erst auf, als die Domina, nicht direkt unfreundlich, aber doch ziemlich ungeduldig und jedenfalls wie gelangweilt, zu ihr bemerkte: „Ja, Comtesse, die springen; es sind eben Eichhörnchen." Einige Minuten später hatten alle die Bank erreicht, von der aus man den besten Blick auf den zugefrorenen See hatte. Das Eis zeigte sich hoch mit Schnee bedeckt, aber in seiner Mitte war doch schon eine gefegte Stelle, zu der vom Ufer her eine schmale, gleichfalls freigeschaufelte Straße hinüberführte. Engelke legte die Decken über die Bank, und die Damen, die von dem halbstündigen und zuletzt etwas ansteigenden Wege müde geworden waren, nahmen alle drei Platz, während sich Rolf Krake und Uncke wie Schildhalter zu beiden Seiten der Bank aufstellten. Dubslav dagegen plazierte sich in Front und machte, während er einen landläufigen Führerton anschlug, den Cicerone. „Hab' die Ehr', Ihnen hier die große Sehenswürdigkeit von Dorf und Schloß Stechlin zu präsentieren, unsern See, meinen See, wenn Sie mir das Wort gestatten wollen. Alle möglichen berühmten Naturforscher waren hier und haben sich höchst schmeichelhaft über den See geäußert. Immer hieß es: ,es stehe wissenschaftlich fest'. Und das ist jetzt das Höchste. Früher sagte man: ,es steht in den Akten'. Ich lasse dabei dahingestellt sein, wovor man sich tiefer verbeugen muß."
„Ja," sagte Melusine, „das ist nun also der große Moment. Orientiert bin ich. Aber wie das mit allem Großen geht, ich empfinde doch auch etwas von Enttäuschung."
„Das ist, weil wir Winter haben, gnädigste Gräfin. Wenn Sie die offne Seefläche vor sich hätten und in der Vorstellung stünden: ,jetzt bildet sich der Trichter und jetzt steigt es herauf', so würden Sie mutmaßlich nichts von Enttäuschung empfinden. Aber jetzt! Das Eis macht still und duckt das Revolutionäre. Da kann selbst unser Uncke nichts notieren. Nicht wahr, Uncke?"
Uncke schmunzelte.
„Im übrigen seh' ich zu meiner Freude — und das verdanken wir wieder unserm guten Kluck- huhn, der an alles denkt und alles vorsieht — daß die Schneeschipper auch ein paar ihrer Pickäxte mitgebracht haben. Ich taxiere das Eis auf nicht dicker
als zwei Fuß, und wenn sich die Leute dran machen, so haben wir in zehn Minuten eine große Lune, und der Hahn, wenn er nur sonst Lust hat, kommt ans seiner Tiefe herauf. Befehlen Frau Gräfin?"
„Um Gottes willen, nein. Ich bin sehr für solche Geschichten und bin glücklich, daß die Familie Stechlin diesen See hat. Aber ich bin zugleich auch abergläubisch und mag kein Eingreifen ins Elementare. Die Natur hat jetzt den See überdeckt; da werd' ich mich also hüten, irgend was ändern zu wollen. Ich würde glauben, eine Hand führe heraus und packte mich."
Adelheid war bei diesen Worten immer gerader und länger geworden und rückte mit Ostentation von Melusine weg, mehr der Banklehne Zu, wo, halb wie das gute Gewissen, halb wie die göttliche Weltordnung, Uncke stand und durch seine bloße Gegenwart den Gemütszustand der Domina wieder beschwichtigte. Nur von Zeit zu Zeit sah sie fragend, forschend und vorwurfsvoll auf ihren Bruder.
Dieser wußte genau, was in seiner Schwester Seele vorging. Es erheiterte ihn ungemein, aber es beunruhigte ihn doch auch. Wenn diese Gefühle wuchsen, wohin sollte das führen? Die Möglichkeit einer schrecklichen Scene, die sein Haus mit einer nicht zu tilgenden Blame behaftet hätte, trat dabei vor seine Seele.
Der Himmel hatte aber ein Einsehn. Schon seit einer Viertelstunde lag ein grauer Ton über der Landschaft, und plötzlich fielen Flocken, erst vereinzelte, dann dicht und reichlich. Den Weg bis Globsow fortzusetzen, daran war unter diesem Umständen gar nicht mehr zu denken, und so brach man denn auf, um ins Schloß zurückzukehren. Auch auf einen Besuch in der Kirche, weil es da zu kalt sei, wurde verzichtet.
XXIX.
Der Heimweg war gemeinschaftlich angetreten worden, aber doch nur bis an die Dorfstraße. Hier teilte man sich in drei Gruppen, eine jede mit verschiedenem Ziel: Dubslav, Tante Adelheid und Armgard gingen auf das Herrenhaus, Uncke und Rolf Krake auf das Schulzenamt, Woldemar und Melusine aber auf die Pfarre zu. Woldemar freilich nur „auf Zeit", denn kaum daß er den Vorgarten erreicht hatte, so verabschiedete er sich von Melusine.
Lorenzen hatte bangen Herzens am Fenster gestanden, kam indessen im selben Augenblicke, wo das Paar draußen sich trennte, wieder zu sich. Er war nun schon so lange jeder Damenunterhaltung entwöhnt, daß ihm ein Besuch wie der der Gräfin zunächst nur Verlegenheit schaffen konnte, wenn's denn aber durchaus sein mußte, so war ihm ein Tete- a-Tete mit ihr immer noch lieber, als eine Plauderei zu dritt. Er ging ihr denn auch bis in den Flur entgegen, war ihr beim Ablegen behilflich und sprach ihr — was er konnte, weil er jede Scheu rasch von sich abfallen fühlte — seine Freude aus, sie in seiner Pfarre begrüßen zu dürfen. „Und nun bitt' ich Sie, Frau Gräfin, sich's unter meinen Büchern hier nach Möglichkeit bequem machen zu wollen. Ich bin zwar auch Inhaber einer Putzstube, mit einem dezenten Teppich und einem kalten Ofen; aber ich könnte das gesundheitlich nicht verantworten. Hier haben wir wenigstens eine gute Temperatur."
„Die immer die Hauptsache bleibt. Ach, eine gute Temperatur! Gesellschaftlich ist sie beinah' alles und leider, leider doch so selten. Ich kenne Häuser, wo, wenn Sie den Widersinn verzeihen wollen, der kalte Ofen gar nicht ausgeht. Aber erlassen Sie mir gütigst den Sofaplatz hier; ich fühle mich dazu noch nicht ,alte Dame' genug und möcht' auch gern 6n vuo der beiden Bilder bleiben, trotzdem ich das eine davon schon so gut wie kenne."
„Die Kreuzabnahme?"
„Nein! das andre."
„Die Lind also?"
„Ja."
„So haben Sie das schöne Bild in der Nationalgalerie gesehn?"
„Auch das. Aber doch freilich erst seit ganz kurzem, während ich von Ihrer Aquarellkopie schon seit ein paar Monaten weiß. Das war auf einer Dampfschiffahrt, die wir nach dem sogenannten ,Eierhäuschen' machten und der Ausplauderer über das Bild da vor mir war niemand anders als Ihr Zögling Woldemar, auf den Sie stolz sein können. Er
freilich würde den Satz umkehreu, oder sage ich lieber, er that es. Denn er sprach mit solcher Liebe von Ihnen, daß ich Sie von jenem Tag an auch liebe, was Sie sich schon gefallen lassen müssen. Ein Glück nur, daß er sich draußen verabschiedet hat und nicht hören kann, was ich hier sage..."
Lorenzen lächelte.
„Sonst hätten sich diese Bekenntnisse verboten. Aber da sie nun mal gemacht sind und man nie weiß, wann und wie man wieder zusammenkommt, so lassen Sie mich darin fortfahren. Woldemar erzählte mir — Pardon für meine Indiskretion — von Ihrer Schwärmerei für die Lind. Und da horchten wir denn auf und beneideten Sie fast. Denn nichts beneidenswerter als 'eine Seele, die schwärmen kann. Schwärmen ist stiegen, eine himmlische Bewegung nach oben."
Lorenzen stutzte. Das war doch mehr, als eine bloß liebenswürdige Dame aus der Gesellschaft.
„Und um es kurz zu machen," fuhr Melusine fort, „Woldemar sprach bei dieser Gelegenheit wie von Ihrer ersten Liebe," und dabei wies sie auf das Bildchen, „so auch von Ihrer letzten, — nein, nein, nicht von Ihrer letzten; Sie werden immer eine neue finden — sprach also von Ihrer Begeisterung für den herrlichen Mann da unten am Tajo, von Ihrer Begeisterung für den Joao de Deus. Und als er ausgesprochen hatte, da haben wir uns alle, die wir zugegen waren, um den 8nMo' geschart und einen Bund geschlossen. Um den ,IIn Konto' und um Sie selbst. Und nun frag' ich Sie, wollen Sie mitthun in diesem unserm Bunde, der ohne Sie gar nicht existierte. Mir ist manches verquer gegangen. Aber ich bin, denk' ich, dem Tage nahe, der mich ahnen läßt, daß unsre Prüfungen unsre Segnungen sind und daß mir alles Leid nur kam, um den Stab, der stützt, fester zu umklammern. Ich darf leider nicht hinzusetzen, daß dieser Stab (möglich, daß er sich einst dazu auswächst) das Kreuz sei. Meiner ganzen Natur nach bin ich ungläubig. Aber ich hoffe, sagen zu dürfen: ich bin wenigstens demütig."
„Wenigstens demütig," wiederholte Lorenzen langsam, und Melusine, weil sie die Zweifel, die sich in Wiederholung dieser Worte ziemlich deutlich aussprachen, mit scharfem Ohre heraushörte, fuhr in plötzlich verändertem und beinah' heiterem Tone fort: „Ach, wie grausam Sie sind. Aber Sie haben recht. Demütig. Und daß ich mich dessen auch noch berühme. Wer ist demütig? Wir alle sind im letzten doch eigentlich das Gegenteil davon. Aber das darf ich sagen, ich habe den Willen dazu."
„Und schon der gilt, Frau Gräfin. Nur freilich ist Demut nicht genug; sie schafft nicht, sie hilft und fördert nicht nach außen, sie belebt kaum."
„Und ist doch mindestens der Anfang zum Bessern, weil sie mit dem Egoismus aufräumt. Wer die Staffel hinauf will, muß eben von unten an dienen. Und soviel bleibt, es birgt sich in ihr die Lösung jeder Frage, die jetzt die Welt bewegt. Demütig sein heißt christlich sein, christlich in meinem Sinne. Demut erschrickt vor dem zweierlei Maß. Wer demütig ist, der ist duldsam, weil er weiß, wie sehr er selbst der Duldsamkeit bedarf; wer demütig ist, der sieht die Scheidewände fallen und erblickt den Menschen im Menschen."
„Ich kann Ihnen zustimmen," lächelte Lorenzen. „Aber wenn ich, Frau Gräfin, in Ihren Mienen richtig lese, so sind diese Bekenntnisse doch nur Einleitung. Sie führen noch andres im Schilde und verbinden mit Ihrer Aussprache, so sonderbar es klingen mag, etwas Spezielles und beinah' Praktisches."
„Und ich freue mich, daß Sie das sofort herausgefühlt haben. Es ist so. Wir kommen da eben von Ihrem Stechlin her, von Ihrem See, dem Besten, was Sie hier haben. Ich habe mich dagegen gewehrt, als das Eis aufgeschlagen werden sollte, denn alles Eingreifen oder auch nur Einblicken in das, was sich verbirgt, erschreckt mich. Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, so weit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen. Sich abschließen, heißt sich einmauern,