Heft 
(1898) 14
Seite
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Weber Land und Meer.

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und sich einmauern ist Tod. Es dreht sich alles darum, daß wir gerade das beständig gegenwärtig haben. Mein Vertrauen zu meinem Schwager ist unbegrenzt. Er hat einen edeln Charakter, aber ich weiß nicht, ob er auch einen festen Charakter hat. Er ist seinen Sinnes, und wer sein ist, ist oft be­stimmbar. Er ist auch nicht geistig bedeutend genug, um sich gegen abweichende Meinungen, gegen Jrrtümer und Standesvorurteile wehren zu können. Er bedarf der Stütze. Diese Stütze sind Sie meinem Schwager Woldemar von Jugend auf gewesen. Und um was ich jetzt bitte, das heißt: ,Seien Sie's ferner'."

Daß ich Ihnen sagen könnte, wie freudig ich in Ihren Dienst trete, gnädigste Gräfin. Und ich kann es um so leichter, als Ihre Ideale, wie Sie wissen, auch die meinigen sind. Ich lebe darin und empfind' es als eine Gnade, ganz in einem Neuen aufzugehn. Um ein solches,Neues' handelt es sich. Ob ein solches ,Neues' sein soll (weil es sein muß) oder ob es nicht sein soll, um diese Frage dreht sich alles. Es giebt hier um uns her eine große Zahl vorzüglicher Leute, die ganz ernsthaft glauben, das uns Ueberlieferte das Kirchliche voran (leider nicht das Christliche) müsse verteidigt werden, wie der salomonische Tempel. In unsrer Obersphäre herrscht außerdem eine naive Neigung, alles,Preußische' für eine höhere Kultnrform zu halten."

Genau wie Sie sagen. Aber ich möchte doch, um der Gerechtigkeit willen, die Frage stellen dürfen, ob dieser naive Glaube nicht eine gewisse Berechtigung hat ?"

Er hatte sie mal. Aber das liegt zurück. Und kann nicht anders sein. Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach allen Seiten hin und ans jedem Gebiete zu bethätigen. Früher war mau dreihundert Jahre lang ein Schloß­herr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinen­weber eines Tages ein Schloßherr sein."

Und beinah' auch umgekehrt," lachte Melusine. Doch lassen wir dies heikle Thema. Viel, viel lieber hör' ich ein Wort von Ihnen über den Wert unsrer Lebens- und Gesellschaftsformen, über unsre Gesamtanschauungsweise, deren Zulässigkeit Sie, wie mir scheint, so nachdrücklich anzweifeln."

Nicht absolut. Wenn ich zweifle, so gelten diese Zweifel nicht so sehr den Dingen selbst, als dem Hochmaß des Glaubens daran. Daß man all diese Mittelmaßdinge für etwas Besonderes und Ueberlegenes und deshalb, wenn's sein kann, für etwas ewig zu Konservierendes ansieht, das ist das Schlimme. Was mal galt, soll weiter gelten, was mal gut war, soll weiter ein Gutes oder Wohl gar ein Bestes sein. Das ist aber unmöglich, auch wenn alles, was keineswegs der Fall ist, einer ge­wissen Herrlichkeitsvorstellung entspräche . . . Wir haben, wenn wir rückblicken, drei große Epochen ge­habt. Dessen sollen wir eingedenk sein. Die vielleicht größte, zugleich die erste, war die unter dem Soldaten­könig. Das war ein nicht genug zu preisender Mann, seiner Zeit wunderbar angepaßt und ihr zugleich voraus. Er hat nicht bloß das Königtum stabiliert, er hat auch, was viel wichtiger, die Fundamente für eine neue Zeit geschaffen und an die Stelle von Zerfahrenheit, selbstischer Vielherrschaft und Willkür Ordnung und Gerechtigkeit gesetzt. Ge­rechtigkeit, das war sein bester Boeder äs broves'."

Und dann?"

Und dann kam zweitens Epoche zwei. Die ließ nicht lange mehr ans sich warten und das seiner Natur und seiner Geschichte nach gleich ungeniale Land sah sich mit einem Male von Genie durchblitzt."

Muß das ein Staunen gewesen sein."

Ja. Aber doch mehr draußen in der Welt als daheim. Anstaunen ist auch eine Kunst. Es gehört etwas dazu, Großes als groß zu begreifen . . . Und dann kam die dritte Zeit. Nicht groß und doch auch wieder ganz groß. Da war das arme, elende, halb dem Untergange verfallene Land nicht von Genie, wohl aber von Begeisterung durchleuchtet, von dem Glauben an die höhere Macht des Geistigen, des Wissens und der Freiheit."

Gut Lorenzen. Aber weiter."

Und all das, was ich da so hergezählt, um­faßte zeitlich ein Jahrhundert. Da waren wir den

andern voraus, mitunter geistig und moralisch ge­wiß. Aber der ,Xon soll osäo-Adler' mit seinem Blitzbündel in den Fängen, er blitzt nicht mehr, und die Begeisterung ist tot. Eine rückläufige Bewegung ist da, längst Abgestorbenes, ich muß es wiederholen, soll neu erblühn. Es thut es nicht. In gewissem Sinne freilich kehrt alles einmal wieder, aber bei dieser Wiederkehr werden Jahrtausende übersprungen; wir können die römischen Kaiserzeiten, Gutes und Schlechtes, wieder haben, aber nicht das spanische Rohr ans dem Tabakskollegium und nicht einmal den Krückstock von Sanssouci. Damit ist es vorbei. Und gut, daß es so ist. Was einmal Fortschritt war, ist längst Rückschritt geworden. Aus der mo­dernen Geschichte, der eigentlichen, der lesenswerten, verschwinden die Bataillen und die Bataillone (trotz­dem sie sich beständig vermehren) und wenn sie nicht selbst verschwinden, so schwindet doch das Interesse daran. Und mit dem Interesse das Prestige. An ihre Stelle treten Erfinder und Entdecker, und James Watt und Siemens bedeuten uns mehr als du Gnesclin und Bayard. Das Heldische hat nicht direkt abgewirtschaftet und wird noch lange nicht abgewirtschaftet haben, aber sein Kurs hat nun mal seine besondere Höhe verloren, und anstatt sich in diese Thatsache zu finden, versucht es unser Regime, dem Niedersteigenden eine künstliche Hausse zu geben."

Es ist, wie Sie sagen. Aber gegen wen richtet sich's? Sie sprachen von ,Regime'. Wer ist dies Regime? Mensch oder Ding? Ist es die von alter Zeit her übernommene Maschine, deren Räderwerk tot weiterklappert, oder ist es Der, der an der Maschine steht? Oder endlich ist es eine bestimmte abgegrenzte Vielheit, die die Hand des Mannes an der Maschine zu bestimmen, zu richten trachtet? In allem, was Sie sagen, klingt eine sich auflehnende Stimme. Sind Sie gegen den Adel? Stehen Sie gegen die.alten Familien?'"

Zunächst: nein. Ich liebe, Hab' auch Ur- sach' dazu die alten Familien und möchte beinah' glauben, jeder liebt sie. Die alten Familien sind immer noch populär, auch heute noch. Aber sie verthun und verschütten diese Sympathien, die doch jeder braucht, jeder Mensch und jeder Stand. Unsre alten Familien kranken durchgängig an der Vor­stellung ,daß es ohne sie nicht gehe', was aber weit gefehlt ist, denn es geht sicher auch ohne sie; sie sind nicht mehr die Säule, die das Ganze trägt, sie sind das alte Stein- und Moosdach, das wohl noch lastet und drückt, aber gegen Unwetter nicht mehr schützen kann. Wohl möglich, daß aristokratische Tage mal wiederkehren vorläufig, wohin wir sehen, stehen wir im Zeichen einer demokratischen Welt­anschauung. Eine neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine bessere und eine glücklichere. Aber wenn auch nicht eine glücklichere, so doch mindestens eine Zeit mit mehr Sauerstoff in der Luft, eine Zeit, in der wir besser atmen können. Und je freier man atmet, je mehr lebt man. Was aber Woldemar angeht, meiner sind Sie sicher, Frau Gräfin. Bleibt freilich, als Hauptfaktor, noch die Comtesse. Für die müssen Sie die Bürgschaft übernehmen. Die Frauen be­stimmen schließlich doch alles."

So heißt es immer. Und wir sind eitel genug, es zu glauben. Aber das führt uns aus ganz neue Gebiete. Vorläufig ihre Hand zur Besieglung. Und nun erlauben Sie mir, nach diesem unserm revolutionären Diskurse, Zu den Hütten friedlicher Menschen zurückzukehren. Ich habe mich bei dem alten Herrn nur auf eine halbe Stunde beurlaubt und rechne darauf, daß Sie mich, wenn nicht bis ins Museum' selbst (das dem Programm nach be­sucht werden sollte), so doch wenigstens bis aus die Schloßrampe begleiten." (Fortsetzung folgt.)

Zum sechsjährigen A'riesterjuöitäunr des Papstes Leo XIII.

ADm letzten Tage des Jahres 1897 beging Papst «E Leo XIII. und mit ihm die katholische Christenheit das Fest der Erinnerung an den Tag, an dem der gegen­wärtige Leiter der römischen Kirche vor sechzig Jahren zum Priester geweiht wurde und zum erstenmal durch das Lesen einer Messe die priesterliche Funktion ausübte. Dem jungen Priester durfte man damals schon eine glänzende kirchliche Laufbahn in Aussicht stellen. Wenn er sich die Priester­

weihe etwas später, als es sonst üblich ist, erteilen ließ, hatte das feinen Grund in der gründlichen Weise, in der er sich auf seinen künftigen Beruf vorbereitete. Der am 2. März 1810 in Carpineto bei Anagni aus einem alten Adelsgeschlechte geborene Gioachino Pecci wurde von feinem achten Jahre an mit seinem Bruder Joseph im Jesuiten­kolleg zu Viterbo erzogen und lag später im Kollegium Romanum zu Rom gründlichen Studien ob. Im Jahre 1832 erwarb er sich den theologischen Doktorgrad und trat dann in die aeeaäsmia äsi uobili seelssiustiei ein. Er hatte die Aufmerksamkeit des Papstes Gregor XIV. auf sich gelenkt und wurde 1837 zu dessen Hausprälaten ernannt. Als solcher legte er am 31. Dezember des ge­nannten Jahres die Priestergelübde ab und beging nach erhaltener Weihe seinePrimizfeier" durch das erstmalige Celebrieren einer Messe.

Die Kungersteine.

Roman

Gertrud Iranke-Schieveköein.

(Fortsetzung.)

ubert ließ sich nicht in seiner Beschäftigung stören. Ja, wie er manchmal eine kleine Zerstreutheit und Vertiefung in die Arbeit heuchelte, sah es beinah' aus, als wolle er sagen: Ich wäre lieber allein.

Aber Karl war mit dem Vorsatz gekommen, nichts übel zu nehmen. Es lag ja immer allerlei Zünd­stoff zwischen ihnen ausgehäuft. Und das letzte Mal war wieder etwas explodiert durch Karls Schuld, wie dieser sich inzwischen hundertmal gesagt hatte.

Was brauchte er wild zu werden, wenn einer seine Berghauers" nicht so bewunderungswürdig fand wie er selber? Was brauchte er dem Hubert Dinge zu sagen er, der sonst alles innerlich ver­arbeitete die dem Hubert überraschend kommen mußten, wie ein Guß kalten Wassers?

Dem Menschen, der schon damals in einer Ver­fassung war, in der keiner ein ruhiges Abwägen und Ueberlegen von ihm verlangen konnte. Der überall absichtlich Kränkungen, Mißachtung, Lieb­losigkeit witterte?

Aber bis heut hatte sich Karl noch nicht so weit gehabt, den ersten Schritt zu thun. Das drückte ihn jetzt, als er den blassen Menschen sah, in dieser Unordnung, mit all der Lebenslast, die sich über den düsteren Brauen abgelagert hatte, wie ein Schatten^ der nicht wegzutilgen war.

Und er antwortete aus die beißende Bemerkung so sanft, als hätte Hubert ihm etwas besonders Freundliches gesagt:Ja, warum ich heut komme, Hubertus . . . direkt vom Bahnhof: die Hungersteine sind da."

Hubert, der eifrig in einem Schubfach gekramt hatte, richtete sich auf wie elektrisiert.Was?" rief er,ist's schon so weit?"

Sie sind da. Mit diesen meinen Augen..."

Wo hast du sie gesehn?"

Bei Tetschen. Hatte da geschäftlich zu thun. Ein knifflicher Fall . . . Lokalbesichtigung . . . na, das interessiert dich ja nicht weiter..."

Nein," sagte Hubert. Er hatte jetzt alles stehn und liegen lassen, sich vorgebeugt auf seinem Stuhl und ließ kein Auge von Karl Wedekind.

Na, also alles, wie du gesagt hattest. Um ein paar Stunden totznschlagen, wie ich meine Sache absolviert habe, geh' ich runter an die Elbe. Un­glaublich! Trostlos einfach! Wenn man das so sieht, das Wässerchen, und wie sie baggern und machen, damit bloß das schmale Rinnsal fahrbar bleibt. . . Und überall die großen, nackten Felsen, die sonst nicht da sind (ich kenne die Gegend wie meine Tasche) da denkt man: das kann ja nie wieder ein anständiger Fluß werden."

Er verschnaufte und wischte sich die Stirn. Aber Hubert machte ihm ungeduldig ein Zeichen, fortzu­fahren.

Na, ein Kerlchen kam mir entgegen, ganz ver­hutzelt, die Tabakspfeife im. Munde, in einer Kiepe ein frischabgezogenes Ziegenfell. Ich fragte ihn als Autochthonen nach all den Marken und Jahreszahlen, die in die Felsen eingemeißelt waren. 1616 die frühste. Dann wieder 1719 und so weiter. Die letzten in immer kürzeren Zwischenräumen und immer niedriger 1873 die allertiesste.