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Ueber Land und Weer.
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Er ist vielleicht fünfzig Jahr. Die sieht man ihm an, zum Unterschied von der Schwester, der man auch die siebzig nicht ansehen würde.
Jedenfalls ist Graf Caren bei Herrn Lister durch Asta Le Fort schon lange empfohlen — aber nicht gut! Ich seh's an dem flüchtigen halben Blicke, den er mir gönnt. Dabei ist der Blick trotz der Flüchtigkeit scharf, kritisch, und die grünen Augen flackern in starker Voreingenommenheit. Mir kann's gleichgültig sein. Bei dem, was ich von Asta Le Fort gern haben möchte, wird er mir doch nie behilflich sein. Wir haben eben gegeneinander die Abneigung ü Wut x>rix. Er liebt meine Laster ebenso heiß, wie ich seine Tugenden. Wir sind aufeinander gehetzt, lange ehe wir uns kannten, und benehmen uns entsprechend. Er mit der bescheidenen Höflichkeit, die besser abschließt als ein Stahldrahtzaun — ich mit der höhnischen Kälte, die so einladend wirkt wie die Portalaufschrift: „Vorsicht! Böse Hunde!" — Und dann bin ich auch der Jüngere, der Lasterhafte; mir macht's Vergnügen, eine Gefühlsroheit zu äußern, die ich weiß Gott nicht besitze.
„Sie waren schon früher in Berlin, Herr Graf?"
Das ist so hübsch, leicht konventionell von Herrn Lister gefragt. Ich brauche nur zu antworten: „Allerdings, man amüsiert sich eben nur in Berlin"
— und ich habe den Blödsinnsrekord des frühreifen Karlchen um unzählige Längen geschlagen. Aber wir wandeln gerade über den Pariser Platz, der mit seinen stummen weißen Palais, seinen abgestellten Fontänen, seinen unbewegten Blumenbosketts so aristokratisch tot daliegt. Und ich fühle, daß ich hier thatsächlich der Stärkere, der Graf, der Flaneur bin, der keinen Bürgerlichen in dieser schlafenden, vornehmen Welt für Gottes Geschöpf anznsehen braucht
— genau wie bei Tage. Ich erwidere drum: „Ja und nein, Herr Lister... Ich war hier ein Jahr aktiver Offizier und kenne außer dem Staube des Tempelhofer Feldes ungefähr ein Häusercarrs da so 'rnm. Das genügt mir auch vollständig. Wenn ich im übrigen scheußliche Gerüche haben wollte, delektierte ich mich an meiner Rekruteninstruktion in der Kaserne Wintermorgens von sieben bis acht." Der Tugendonkel schweigt befriedigt. Auf solche Horizontenge hatte ihn selbst die Grünäugige nicht vorbereitet. Aber ich bin noch nicht zu Ende. „Was ist überhaupt Berlin für unsereinen? Vier anständige Lokale bei Tage, vier nicht anständige bei Nacht. In die anständigen geht man in Uniform, in die andern in Zivil. Die Uniform-Affairen sind langweiliger, die Zivilmaskeraden teurer — und der Zweck der Uebung heißt: freie Zeit totschlagen."
Der Tugendonkel wirft mir einen scharfen, schillernden Blick zu: „Dann kennen Sie also Berlin gar nicht, Herr Graf?"
Ich bin höchlich erstaunt. „Ach, Sie meinen das andre Berlin, den Riesendunstkreis, den man schon auf Meilen von der Bahn aus erblickt, und vor dem ich mich stets graue, weil er unheimlich viel Schmutz und Häßlichkeit umhüllen muß — vielleicht auch Not, Elend . . . Das soll ja wohl das eigentliche Berlin sein. Aber was sollen wir mit dem? . . . Im Anfänge hat man noch seine Mitleidswallungen, man kanft den hübschesten Mädchen der Heilsarmee einen „Kriegsruf" ab — so eine Art urfideler Bon auf den Temperenzlerhimmel. Auch der häßlichen Blumenfrauen erbarmt man sich, der Wachsstreichhölzerkrüppel und der bettelnden Weiber mit wachsgelben Säuglingen im Arm noch nach Mitternacht. Dann wird man härter. Diese polizeilich gestattete Bettelei geniert. Helfen kann man allen doch nicht — und alle diese Unglücklichen sollen ja noch obendrein wohlhabende Häuserbesitzer sein."
Ich beabsichtige, Herrn Listers tugendhafte Empörung zu wecken. Doch Herr Lister schweigt — schweigt.
Die Unterhaltung schläft ein. Der Doppeldoktor träumt, die Fäuste in den Paletottaschen, von endlosen Milles; ich pfeife einen Walzer. Die Linden sind tot, grau, dunstig, mit geschlossenen Schaufenstern, stickigen, düsteren Portalen. Die Droschkenpferde nicken auf ihren Ständen ein, auch die Bäume schlafen. Für sie ist es ein ungesunder Halbschlummer unter dem Gaslicht, das hell durch das Blattgrün und matt auf dem Pflaster glänzt. Wir sind schon an der Passage; die eisernen Gitter sind geschlossen. Im „Englischen Büffett" nebenan schimpfen ein paar betrunkene Jockeys. Ich höre englische Flüche . . .
Da tritt aus dem hochgewölbten Portale eine Gestalt — ein Mädchen, eins von den halberwachsenen Geschöpfen des Weltstadtelendes, die nie auswachsen. Sie ist jung, sie ist verdorben, sie bettelt uns an mit der angelernten unverständlichen Winselei, die mir trotzdem Grauen macht, weil sie immer eine furchtbare Geschichte hat. Das ist deine Versuchung, heiliger Louis!
Und Louis Caren fällt wirklich aus der Nolle. Einem Bettler nichts geben? Nein, alter Freund, das bringst du doch nicht fertig! Natürlich ist's Schwäche. Aber ich hasse auch dieses erbärmlich vernünftige Wohlthun, das immer erst nach der Würdigkeit fragt, ehe es den Nickel 'rausrückt. ,Sie riechen nach Schnaps — darum gebe ich Ihnen nichts? Und dann sagt der Würdige wieder zu sich selbst: ,Ja, wenn er schuldlos ins Elend gekommen wäre — wie gerne würde ich ihm helfen! Aber hier wäre es Sünde. Ich darf nicht noch ein Laster unterstützen..? Verwünschtes Pharisäertum! Ich gebe immer wahllos, ohne zu denken — immer zu viel. Das Elend greift meine Nerven an. Ich will mich schnell loskaufen: Bleibt mir vom Leibe mit euren Leidensgeschichten! — Ob erlogen oder nicht, sie sind immer schrecklich. Und nun dieses junge, graue, in der Entwicklung zurückgehaltene Geschöpf — ob's fremde Laster nun sind oder eigne Sünden — ist mir gerade der schrecklichste Typus: es ist die schon im Mutterleibe vergiftete Brut der Weltstadt! . . .
„Hier, nimm." Ich gebe alles Silber, was ich noch habe, ohne sie überhaupt anzusehen. Grübeln mag ich nicht. Man kommt dabei immer auf eine Riesensünde der Menschheit! — Und während ich dem Wurme das Geld in die Hand schiebe, fühle ich ordentlich einen fast stechenden Blick des Tugendonkels. Ist ihm vielleicht das auch nicht recht? — Er giebt doch selbst, und dem Klange nach ist's nicht Kupfer oder Nickel.
„Sie werden Ihren Prinzipien untreu, Herr Gras! Es ist ein Geschöpf, das ganz sicher in der Gosse verenden wird und vielleicht wellig Mitleid verdient."
Das klingt hart, höhnisch aus Herrn Listers Mund. Und ich kann ihm nur mit einem ganz bösen Blick erwidern: „Das weiß ich, und eben deshalb gebe ich!"
Bei Cafe Bauer will ich mich verabschieden. Aber der Doktor ist ein Nachtvogel und will mit — der Tngendonkel auch. Ich habe ihn nicht anfgefordert.
Und während die Kaffeetassen um mich klappern und die anständigen Bummler sich an den Marmortischchen ulld der plätschernden Fontäne vorüber ins Lokal drücken, träume ich — nicht von den Le Fortschen Mädchen. Eine Pariser Erinnerung ist mir auf einmal wach geworden. Ich sehe ein schmutziges, fröstelndes Kind schlaftrunken an meiner Hand torkeln. Ich habe sie halb erstarrt an einer Ecke des Konkordienplatzes aufgelesen und schleppe sie in meine hyperelegante Gargonwohnung im Quartier Saint Germain. Ich will den Diener nicht wecken, ich präpariere selbst einen höllisch starken Mokka, während das auffallend hübsche Mädchen wie halb benebelt neben mir blinzelt. Dann lege ich sie auf meine Chaiselongue und decke sie selbst zu. Dort schläft sie sofort den bleiernen Kinderschlaf, den sie seit drei Tagen an Straßenecken, auf Thürschwellen vergeblich gesucht, weil die Winterkälte sie immer wieder aufjagte. Das unglückliche Wurm traut sich nicht nach Hause, weil man ihm das Geld für die Blumen gestohlen hat. — Zum Danke für meine Wohlthat hat sie mir am andern Tage eine kostbare Perlennadel gemaust. Mein Diener war maßlos empört, und meine Bekannten lachten. Ich war feige und lachte mit. Aber wem: ich mich jetzt ehrlich frage: Ist's dir um die Perlennadel leid und diesen selbstgebrauten Kaffee nach einem Souper beim russischen Botschafter — so muß ich sagen: nicht einen Augenblick! Denn als ich das schlafende Kind des Elends inmitten meiner vornehmen Einrichtung mir ansah und mir kalt sagte, daß zwei Jahre später sie innerlich ebenso schmutzig sein würde, wie jetzt nur im Gesichte — da begriff ich zuerst die ungeheure Sünde, die das ungeheure Paris gerade an der jungen Menschheit begeht. Ich hätte dem Wurm aus dein Schlamme helfen sollen — ich gab ihm Geld — es war bequemer so — vielleicht kam ich auch gar nicht auf den andern Gedanken. (Fortsetzung folgt.)
H H r: ä n e n.
Mit sanftein Vorwurf sprachst du: Thöricht Weib!
wir sind so glücklich, Liebste, und du weinst!
wir sind so elend, hast du keine Thränen?
L. Lysell.
Die Sonate für die Violine.
Cinr geschichtliche Darstellung G. Witting- Dresden.
Ens allen Gebieten des praktischen wie geistigen Lebens «E gaben und geben noch immer einzelne thatkräftige Menschen Veranlassung zu Verbesserungen und Neuerungen, in denen so oft der Keim zu großartigen Umwandlungen des Bestehenden verborgen liegt.
Diejenigen, die als Reformatoren gefeiert werden, sind weniger von ursprünglichen, selbstschöpserischen Gestaltungen geleitet worden, als von den zu ihrer That gehörigen Elementen, die schon lange Zeit vorher in allerlei vagen Erscheinungen sich zu bilden angefangen hatten. Ihr Verdienst ist darum kein geringeres, kraft ihrer geistigen Erkenntnis, diesen Elementen zur rechten Zeit und mit den rechten Mitteln eine feste Gestalt gegeben zu haben, wodurch dieselben den Stempel der Reife erhalten konnten.
Auch die Musikgeschichte nennt solche thatkräftige Künstler, die durch Einführung einer scheinbar unwesentlichen Neuerung den Boden für ungeahnte spätere Knnsterzengnisse ebneten, wovon die Sonate ein so großartiges Beispiel vor Augen führt. War sie es doch, welche die Veranlassung zur Instrumentalmusik gab, denn bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein galt für den Komponisten die Vokalmusik als das einzige künstlerische Gebiet. Obgleich mehrere
der Kunstprodnktion ausgeschlossen,' und man überließ sie ganz den Dilettanten, den fahrenden Spielleuten und zünftigen Musikanten. Indes, da ihnen hier eine planmäßige künstlerische Pflege nicht zu teil werden konnte, so blieben sie zu unvollkommen, um höheren Zwecken dienen zu können. Doch darf man annehmen, daß unter den fahrenden Spielleuten auch strebsame und für ihr Instrument begabte Leute gewesen sein mögen, die durch ihre besonderen Leistungen die Aufmerksamkeit der Komponisten auf sich lenkten. Auch hatten die Jnstrumentalisten ans Mangel an Musikalien zu jener Zeit schon begonnen, zu ihrer Belehrung Gesangskompositionen ans ihren Instrumenten anszuführen, woraus dann folgte, daß sie nach und nach dem Sängerchor zur Verstärkung der Stimmen beigegeben werden konnten, was als ein Zeichen der Erstarkung des Instrumentalen zu betrachten ist.
Auf diese Weise mag die Veranlassung zu den Versuchen entstanden sein, die Andrea Gabrieli (1510—1586) mit der Komposition von Jnstrumentalstücken machte. Er nannte diese Stücke Sonata, Klingstück, im Gegensätze zu Cantata, Singstück, und sie dienten ihm als Einleitung zu kirchlichen Gesangswerken. Diese Neuerung muß lebhaften Beifall gefunden haben, dg sie von andern Künstlern nachgeahmt wurde und das Instrumentale sich von nun an beständig entwickelte. Besonders der Nesse und Schüler des vorhin genannten Meisters, Giovanni Gabrieli (1557 bis 1612), hat den Ruhm, die Streich- und Blasinstrumente selbständig gemacht zu haben. Seine Sonaten oder Klangstücke, Sätze von zwölf bis sechzehn Takten, waren für vier Posaunen und zwei Kornetten oder zwei Posaunen, drei Kornetten und Violinen gesetzt. Daß die Jnstrumentalisten durch diese Standeserhohnng einen Antrieb fanden, ihrem Können etwas mehr Aufmerksamkeit wie bisher zu widmen, ist ja anzunehmen, aber Thatsache ist, daß das Geigeuspiel von nun an rasche Fortschritte machte, wozu wohl auch das folgende Verhältnis mit beigetragen haben mag, das einen Wetteifer hervorrief, auch gute Geigen zu schaffen, die es ermöglichten, die noch schlummernde Seele dieses Instruments zu erwecken. Die Laute nämlich, ein Saiteninstrument,