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Ueber Land und Weer.
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hätte. Aber es war ihr zu wichtig, was sie auf dem Herzen hatte.
„Du hast Tante Juliettes Häuschen au einen deutschen Offizier vermietet," sprach sie mit erhöhter Stimme, „ist das möglich, Papa, du, so reich?"
„Wer sagt das?" fuhr er auf. „Man muß nie mit Bestimmtheiten um sich werfen; es giebt überhaupt keine einzige Gewißheit auf der Welt."
„Aber das ist doch gewiß, daß in unserm Häuschen seit gestern abend ein deutscher Offizier wohnt?"
„Anscheinend ist er ein Deutscher," gab Monsieur Merkte zu, „wenigstens behauptet er's, aber sein Name ist Dumont; und dn willst eine Französin sein und heißest Merkle —"
„Papa" — Jeannes Lippen zitterten ein wenig —, „was werden unsre Verwandten in Paris sagen? Ich schäme mich zu Tod."
„Das ist unnötig," sagte Monsieur Merkle, „neulich in Mülhausen, als die Arbeiterwirren ausbrachen, waren sie alle recht froh über das deutsche Militär; man muß immer rechnen, mein Kind, und sich mit Leuten, aus deren Hilfe man angewiesen ist, nicht feindlich stellen; deine lieben Pariser können mir nicht Helsen, wenn mein Eigentum in Gefahr kommt."
„Immer dieses Geld," murmelte Jeanne.
Ihr Vater lächelte; er wollte eben etwas sagen, als er durch den Eintritt der beiden Hausfreunde daran verhindert wurde.
Der Kapitän mit seinem vor Aufregung roten Kops wollte sofort ins Zeug gehen, allein Monsieur Martelet schnitt ihm das Wort ab, indem er erst Jeanne mit einem Schwall von Liebenswürdigkeiten überschüttete, sodann Monsieur Merkle versicherte, er werde alle Tage jünger, und ganz lustig-hin- zusügte:
„Apropos, was haben wir denn da durch das Gitter Ihres Nebengartens für einen bunten Vogel schimmern sehen, Monsieur Merkle?"
„Es ist ein deutscher Offizier," sagte Jeanne, indem ihr eine tiefe Röte in die Stirn stieg.
„Mademoiselle" — der Kapitän wollte von seinem Stuhl ausspringen, allein Martelet kam ihm abermals zuvor:
„Ereifern wir uns nicht, Monsieur Merkle ist immer gerecht, er wird uns den Grund seiner Handlungsweise nicht vorenthalten, nicht anstehen, zwei alte Hausfreunde, die nicht recht wissen, was sie von der Sache denken sollen, auszuklären."
„Die Sache ist ganz einfach," fiel ihm Monsieur Merkle ins Wort, „es machte mir Spaß, dem deutschen Offizier mein Häuschen zu vermieten; es ist mir nie in meinem Leben eine so freundliche Beharrlichkeit vorgekommen wie die dieses Herrn, und für Beharrlichkeit habe ich eine besondere Schwäche. Das leere Häuschen da oben gefiel ihm, und so oft er mich sah, bat er mich mit der ausgesuchtesten Höflichkeit, ich möchte es ihm vermieten. Daß ich endlich nachgab, hat übrigens noch einen andern Grund. Letzten Monat starb mir ein tüchtiger Arbeiter ; ich habe wieder eine Witwe mit drei Kindern auf dem Hals; mit dem Mietzins des Häuschens ist ihr geholfen. Man muß immer rechnen, meine Herren."
„Habe ich's nicht gesagt?" rief Martelet aus, „da haben wir's! Monsieur Merkle ist nicht der Mann, der sich Hinreißen oder verwirren läßt, Monsieur Merkle thut immer das Richtige. Unser armer Kapitän, ich sehe es ihm an, ist andrer Meinung, aber auch das müssen wir verstehen; Ihre Welt, Monsieur Merkle, ist Ihre Fabrik, seine Welt war die Armee — unsre große — unsre —"
„Ich bitte Sie," unterbrach ihn Monsieur Merkle, indem er einen ungeduldigen Griff nach seiner Zeitung that.
Martelet sprang auf: „Sie sind ein Mann der That und nicht der Worte; kommen Sie, kommen Sie, Kapitän, befreien wir diesen Vielbeschäftigten von ein paar abscheulichen Eindringlingen."
Die beiden ungleichen Freunde schritten die breite Treppe hinab; kaum im Garten angekommen, warf der Kapitän dem Kameraden den Fehdehandschuh hin:
„Sie sind ein unzuverlässiger Mensch, Sie haben keinen Charakter, die ernsthaftesten, die heiligsten Dinge behandeln Sie en dagnteiw —"
„Weil ich einsichtsvoll bin," unterbrach ihn der
Franzose, „das ist es ja eben, was euch arme Elsässer so unausstehlich macht, dieser Ernst, diese Schwere, diese Plumpheit! Wochenlang kauen Sie an Ihrer Empörung herum, wenn ich längst nicht mehr weiß, um was es sich handelt. O mein Frankreich, du Land, in dem man ewig jung bleibt, weil alles seinen Impulsen, seinen momentanen Eingebungen folgen darf, warum muß ich unter Menschen leben, die das Dasein zu einer Zwangsarbeit herabwürdigen? Wissen Sie nicht, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, Monsieur Merkle in irgend einer Sache zu bestimmen, zu beeinflussen! Mein Gott, er kann mich ja jeden Augenblick an die Lust setzen! Ich, mit meiner Geistesgegenwart, sagte mir sofort: hier müssen wir aus eigne Faust handeln; sachte, ganz sachte müssen wir diesen Prussien aus unsrer stillen Ecke Hinaustreiben — Ah, mein Freund," setzte er mit einem Seufzer hinzu, „ Sie lernen mich nie kennen!" — woraus ihm der Kapitän ganz zerknirscht die Hand drückte.
Auch Jeanne hatte das Zimmer ihres Vaters verlassen; sie war eine so große Patriotin, daß ihr jedesmal die Röte der Scham in die Stirn schoß, so oft sie daran dachte, was sie wohl in Paris sagen würden, wenn sie erfuhren, daß ein deutscher Offizier auf ihres Vaters Grund und Boden wohne. Gewiß würde man auch sie mit Vorwürfen überhäufen und es unbegreiflich finden, wie sie eine solche Sache habe geschehen lassen können. Kein Mensch wußte ja, wie wenig sie bei ihrem Vater durchsetzte, daß sie keinen Willen haben durste, keine eignen Gedanken!
Unruhig ging das junge Mädchen in den schönen Räumen des oberen Stockwerkes aus und ab; hier herrschte sie, und ihre Umgebung stand mit der Eleganz ihrer eignen Erscheinung im schönsten Einklang.
Durch die offenen Fenster sah man weit in das gesegnete Thal hinein, eingebettet zwischen den noch kahlen Rebbergen und dunkeln, hoch zum Himmel ragenden Tannenwäldern. Jeannes Blick glitt achtlos über diese freundliche Landschaft hin: ihr Sinn war nicht geweckt für die Natur. Für sie gab es nur ein Schönes: Paris. Allein, mochte sie sich noch so sehr dort zu Hause fühlen, es erging ihr mit ihrem Aeußern wie mit ihrem Namen!
Jeanne Merkle, das war nichts Ganzes, das waren zwei Hälften, die nicht zusammenpaßten.
Und das junge Mädchen litt unsäglich unter diesem Zwiespalt; sie hatte die Umgangsformen einer jungen Weltdame, war sich bewußt, mit der gleichen Vollkommenheit die französische, englische und deutsche Sprache zu beherrschen, und malte und musizierte nicht ohne Talent. Aber trotz aller dieser Kenntnisse war sie innerlich ein vollkommen unentwickeltes Geschöpf geblieben; in ihr schlummerte alles. Einmal nur — sie war noch ein kleines Kind — war eine überraschende Kraft der Empfindung bei ihr für einen Augenblick zu Tage getreten; sie war gerade dazu gekommen, wie ihre Gouvernante im Garten einen lebendigen Schmetterling an einer Nadel aufspießte; an allen Gliedern zitternd warf sich das Kind von hinten aus die Erzieherin, umklammerte deren Hals mit beiden Händen, in der höchsten Erregung die Worte hervorstoßend: „Auch Sie sollen sterben!"
Monsieur Merkle erfuhr diese Geschichte, aber er verlor kein Wort darüber. Mademoiselle Simon blieb die Erzieherin des mutterlosen Kindes, obgleich Jeanne sich bei jeder Gelegenheit bei ihm beklagte: „Sie ist nie freundlich, sie ist immer nur streng zu mir." — „Strenge ist gesund," antwortete ihr der Vater, und in der That, Jeanne war schon mit zehn Jahren eine kleine Dame, die Widerspruch und Tadel schweigend hinzunehmen und mit jedermann zu verkehren verstand.
Durch Mademoiselles Vermittlung war die kleine Jeanne, ohne daß sie ihr Vaterstädtchen verlassen hätte, die Schülerin eines Pariser Klosters gewesen. Jeden Samstag wurden die Ausgaben des Kindes in jenes Pariser Institut geschickt, wo sie durchgesehen wurden und mit den Aufgaben der kommenden Woche zurückkamen. Die kleine Jeanne hatte ihren Platz in der Klaffe, erhielt jedes Jahr eine Belobung und war stolz, einer Pariser Schule als Mitschülerin anzugehören. Mit zwölf Jahren kam sie als Zögling in jenes Kloster, das sie erst als achtzehnjähriges Mädchen wieder verlassen hatte.
Mademoiselle Simon, die während Jeannes Abwesenheit dem Vater Gesellschaft geleistet hatte, verließ das Haus, als däs junge Mädchen in die Heimat zurückkehrte.
In ihrer Erinnerung war es einzig Mademoiselle Simon gewesen, die ihr das Leben in ihrem väterlichen Hause verbittert hatte, und einstmals, bei einem Besuch des Vaters im Kloster, gestand ihm Jeanne, daß sie ihre Erzieherin niemals geliebt habe und auch nie zu lieben vermöge, trotz der vielen Andachten, die sie in diesem Sinne schon gehalten.
Und Monsieur Merkle besann sich einen Augenblick und versprach dann seinem Töchterchen:
„Du wirst sie nicht mehr zu Hause vorfinden."
Aber das Glück, von dem sie geträumt hatte, war darum doch nicht da; die große Summe, die ihr der Vater für ihre persönlichen Bedürfnisse aussetzte, war nur eine Quelle des Kummers und Aergers für sie, weil sie halbe Tage damit zubringen mußte, ihre leidige Rechnung zum Stimmen zu bringen, denn bis zum letzten Pfennig sollte sie dem Vater Rechenschaft geben. Auch litt sie unter seinen spießbürgerlichen Gewohnheiten und schämte sich der Genauigkeit, mit der er die Dienstboten quälte und oft zum Hause Hinaustrieb. Als Jeanne ihm einmal vorwarf: „Du machst dir nur Feinde; es wird dich niemand lieben," gab er zur Antwort:
„Wer in meinem Hause ist, wird ein tüchtiger, sparsamer Mensch, und dabei finde ich meine Rechnung."
Es war dem alten Herrn alles Geschäft, und die unbeschreibliche Nüchternheit und Klarheit, womit jede Lebensfrage abgethan wurde, legte sich Jeanne wie ein Meltau auf die Seele. Sie wunderte sich jetzt oft, weshalb sie eigentlich im Kloster nicht glücklicher gewesen war; dort hatte sie im Verkehr mit gleichaltrigen Freundinnen fröhliche Stunden genossen, während sie sich jetzt mit den paar Fabrikantentöchtern, bei denen sich alles um die engen Verhältnisse des Fabrikstädtchens drehte, durchaus nicht wohl fühlte.
Im Kloster - hatten ihr die meisten ihrer Mitschülerinnen zugesagt, und nur an sich selbst hatte sie immerfort auszusetzen gehabt. Niemand war so lang, so blond und so still wie sie; wie oft härmte sie sich im geheimen ab, daß sie so ganz anders war als diese entzückende, lebenssprühende Marie Toussaint, ihr Ideal. Aber was half es ihr, daß sie ihr angeborenes Selbst verleugnete? Die Vorzüge der Freundin vermochte sie sich darum doch nicht anzueignen. Sie wußte auch ganz genau, daß ihre Mitschülerinnen sie heimlich „töte enri-se" nannten, und Marie Toussaint selbst hatte sie einmal eine „sentimentale Deutsche" genannt, weil sie ihr Ideal unter heißen Thränen der Untreue beschuldigt halte.
Jeanne hatte plötzlich ihr unruhiges Auf- und Abgehen unterbrochen und lehnte sich zum Fenster ihres Boudoirs hinaus. Was war das? Theres, die Tochter des Gärtners, unterhielt sich auf das allerfreundlichste mit einem Manne jenseits des Gitters, der eine deutsche Uniform trug. Sie genierten sich kein bißchen, lachten und scherzten ganz laut, so daß Jeanne jedes Wort hätte verstehen können. Aber sie schloß empört das Fenster; was sollte sie thun? Wenn sie mit ihrem Vater sprach, — doch sie wußte, er pflegte alles anders auszusassen als sie und fand gewöhnlich eine Sache komisch, die ihr sehr ernst vorkam. Besser also, sie redete selbst mit Theres und hielt ihr das Unstatthafte ihres Betragens vor. Aber nicht gleich; erst wollte sie ruhig werden, sich selbst in der Gewalt haben. Sie ging in ihr kleines, nach Norden gelegenes Atelier und war bald in ihre Beschäftigung vertieft. Sie malte einen Teller für Marie Toussaint; sie war überhaupt immer mit einer Arbeit für diese Freundin beschäftigt, an der sie mit der ganzen Zärtlichkeit ihres Herzens sesthielt. Marie Toussaint war sofort nach ihrem Austritt aus dem Kloster mit ihrem Onkel Toussaint verheiratet worden.
Beim Hochzeitsmahl hatte Marie gelacht und gescherzt, während die Freundin Jeanne mit ihren Thränen kämpfte. „Was hast du nur?" flüsterte ihr die junge Braut ins Ohr. Aber sie erhielt keine Antwort; Jeanne verstand selber nicht, was sie so tief bewegte; sie mußte nur immer das so ungleiche Paar ansehen, und die Frage drängte sich ihr auf: wozu denn jung sein und reizend und begehrenswert, wenn das das Ende ist?
Indes, der erste Besuch im Heim der jungen