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Ueber Land und Weer.
M 26
Linksrheinisch.
Novelle
Hermine Vrllingrr.
(Fortsetzung.)
er Eierkuchen stand auf dem Tisch, ein Teller mit Schinken und ein Glas mit Preiselbeeren kam hinzu. Dumont ließ sich's schmecken und freute sich wie ein Kind über seine Kocherei.
„Mensch," sagte er zu dem ihm aufwartenden Burschen, „was brauchen Sie denn deutsche Lieder da am Gitter Zu singen?"
„Ich Hab' nit angefange, 's Mädel war's," sagte der Soldat, „sie heißt Theres, Herr Hauptmann."
„So, so!" Der Hauptmann erhob den Finger: „Ich bitte mir aus, die Mädchen in der Nachbarschaft ganz und gar in Ruh' gelassen, ganz und gar!"
„Sie macht aber immer ,Pst! Pst!', Herr Hauptmann."
„Da ist man taub, mein Lieber; überhaupt, wenn man unter Leuten leben muß, die einen nicht leiden können, bleibt nichts andres übrig, als sich durchaus exemplarisch aufzuführen, denn das ärgert sie am meisten. Verstanden?"
Der Bursche bekam den halben Eierkuchen, der ihn allerdings lieblich anduftete, aber er war doch im Zweifel, ob ihm nicht das hübsche Mädel am Ende noch lieber gewesen wäre.
Nach dem Essen, das um zwölf Uhr stattgesunden, machte sich Dumont fertig zu seinem Besuch in der Familie seines Mietsherrn. Jeanne war vorbereitet; Martelet hatte es verstanden, sie in aller Schnelligkeit zu überzeugen, daß sie den Deutschen unter allen Umständen empfangen müsse — ihm zuliebe, denn er habe sich verbürgt: Monsieur Merkte und seine Tochter würden ihn auf das liebenswürdigste ausnehmen.
„Wir sind ihm das schuldig," behauptete er, „denn er benahm sich auf das taktvollste, trotz der beschämenden Unliebenswürdigkeit des Kapitäns, der sich wie ein deutscher Bär gebärdete. Uebrigens, der Hauptmann ist aus alles vorbereitet, es braucht nur noch eines Wortes von Ihnen und er wird das Häuschen verlassen."
So kam's, daß Jeanne bei dem Besuch des deutschen Offiziers zugegen war; sie wollte dieses Wort sprechen und wartete nur auf den Augenblick, um ihr Anliegen unauffällig an den Mann zu bringen. Sie hörte mit wohlerzogener Aufmerksamkeit der Unterhaltung zwischen ihrem Vater und dem Fremden zu, dabei die kühlste Zurückhaltung beobachtend, denn er sollte merken, daß man ihn in diesem Hause als Eindringling betrachte, was ihn: aber zu Jeannes Entrüstung gar nicht einzufallen schien. Völlig unbefangen, als ob sich jemand dafür interessiere, sprach er von seinem Leben im Elsaß und was er schon alles gesehen; durch dunkle Wälder war er gewandert, hatte halbverfallene Burgen oben im Bergwald bestiegen und an den Ufern einsamer Bergseen gerastet. Jetzt hatte er vor, einer uralten Sage des Elsaß nachzuspüren: man sollte zur Zeit der kürzesten Nächte die Sonne im Westen versinken sehen können, wenn im Osten bereits die neu aussteigende Sonne über dem Schwarzwald erscheine.
Monsieur Merkte, der in seinem Leben noch keinen so kuriosen Kauz kennen gelernt wie diesen Deutschen, saß da, die Hände in den Taschen, mit hochgezogenen Brauen und zuckenden Mundwinkeln. Jeanne blickte vor sich hin; es war ihr peinlich, diesen Fremden die Schönheit ihrer Heimat preisen Zu hören.
Als er sich mit der Frage an sie wandte: „Wissen Sie nicht, was ein elsässischer Dichter singt,
schoß eine dunkle Glut in ihr Gesicht.
„Das ist vorbei," rief sie aus, „das ist vorbei; die Trümmer von der Belagerung Straßburgs liegen zwischen Deutschland und dem Elsaß und werden uns ewig scheiden."
„Glauben Sie?" meinte der Hauptmann. „Ist nicht oben aus dem Turm des Münsters die französische Kanonenkugel von 1678 in steinerner Inschrift verewigt? Sie hat doch auch nicht verhindert, daß sich seither die Generationen für gute Franzosen hielten. Lesen Sie doch, was Goethe in ,Wahrheit und Dichtung' über das Elsaß schrieb; damals vollzog sich derselbe Prozeß wie jetzt, nur im umgekehrten Sinne. Ich glaube nicht, daß je etwas Schöneres über das Elsaß geschrieben worden ist. — Sie kennen doch Goethe, gnädiges Fräulein?"
„Ich habe nie ein deutsches Buch gelesen," gab ihm Jeanne zur Antwort.
„Da haben Sie viel nachzuholen. Ich werde Ihnen den Band mit dem Elsaß herüberschicken; erlauben Sie es mir, bitte. Lernen Sie uns Deutsche ein wenig kennen; wir sind nicht so schlimm. Sie werden sogar die Bemerkung machen, daß gar kein besonderer Unterschied herrscht zwischen den Menschen links und rechts vom Rhein. Mir geht eben ein neues Dasein aus mit diesem Goethe, und ich segne mein Mißgeschick, das mir erlaubt, auch einmal etwas andres zu treiben als Militärdienst."
„So was ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen," sagte Monsieur Merkte, nachdem sich der Besuch verabschiedet hatte, „ein junger Mensch, der alten Sagen nachspürt und den Goethe liest!"
„Lächerlich," rief Jeanne aus, „ich möchte es wirklich mit ansehen, wie er da oben auf dem Belchen steht und weit und breit kein Wunder geschieht."
Sie lachte laut auf, im Innern aber war sie unzufrieden mit sich selber; wie hatte sie nur die Hauptsache vergessen können: den Wink, die versteckte Bitte bei dem jungen Offizier anzubringen, welch ein Gefallen ihr damit geschähe, wenn er das Gartenhaus wieder räumte.
Sie besann sich eben, ob die Sache nicht besser brieflich abzumachen sei, als ihr auch schon das Buch, von dem die Rede gewesen, herausgebracht wurde. Sie dachte nicht daran, es zu lesen, nicht allein, weil Goethe unter die streng, verbotenen Bücher des Klosters gehörte, sondern weil ihr überhaupt jedes Interesse am Lesen abging. Sie blätterte ein wenig in dem Buch, und als eine Visitenkarte herausfiel, hob sie dieselbe auf und las den Namen, der daraus stand.
Georg von Dumont, das paßte ebensowenig als Jeanne Merkte — Jeanne Dumont und Georg Merkle würden sich besser machen.
Damit legte sie die Karte in das Buch zurück; zugleich aber bemerkte sie da und dort an der Seite eines Blattes kleine rote Striche, und sie sing an, zu lesen, bloß aus Neugier, was diese Zeichen bedeuten sollten.
Jeanne bezog noch immer ihre Lektüre aus dem Kloster, mit gewissenhafter Treue an dieser Gewohnheit sefthaltend, denn ihr war im Kloster eingeprägt worden, daß ein schlechtes Buch die Seele verderbe. Sie las diese Bücher, in denen der Glaube und die Verherrlichung der Tugend die Hauptrolle spielten, ohne tieferes Interesse; sie erweckten wohl den Wunsch in ihr, ein so heiliges, frommes und selbstloses Leben zu führen wie ihre Nonnen im Kloster, aber noch nie war ihr Gemüt durch ein Kunstwerk, durch etwas wirklich Schönes und Großes in Mitleidenschaft gezogen worden.
Nun hielt sie den verbotenen, so übel beleumundeten Goethe in der Hand. „Ich will nur einmal hineinsehen," sagte sie sich; „wenn's recht schlimm kommt, kann ich das Buch ja weglegen."
Sie hatte geglaubt, auf gehässige Vorurteile zu stoßen, denselben Zwiespalt vorzufinden, der jetzt die Gemüter beherrschte und sie feindlich trennte. Nichts von alledem. Der junge Wolsgang war kein einseitiger Deutscher; er sammelte elsässische Volkslieder und machte französische Verse; eine friedliche Welt voll ernsten Strebens that sich vor ihr aus/ und Jeanne, die sich von Goethe eine ganz schreckliche Vorstellung gemacht hatte, fand ihn langweilig. Es kostete sie durchaus keinen Kampf, das Buch zu schließen, mit der Absicht, es am andern Tag zurückzuschicken.
Statt ihr Vorhaben auszuführen, setzte sich Jeanne mitsamt ihrem Buche im Laufe des Nach
mittags in das kleine Gartenhäuschen von Holzrinde, dicht am Gitter des Nachbargartens; sie sagte sich, es sei hier am stillsten. Das war aber nicht die Wahrheit, sondern es nahm sie wunder, was ihr Vater und der deutsche Hauptmann an diesem Gitter so wichtiges miteinander zu verhandeln hatten, denn Monsieur Merkle, der sich sonst nur im Garten hatte blicken lassen, um der Arbeit des Gärtners nachzuspüren, ging mit einemmal alle Tage nach Tisch am Gitter des Nachbargartens auf und ab, die Zigarre im Mund, die Zeitung aus dem Rücken tragend, und unterhielt sich mit dem Hauptmann, der sofort in seiner Gartenarbeit aushörte, um mit dem Nachbar zu lustwandeln.
Daß sich Jeanne in der Nähe aufhielt, wußten beide nicht; es führte ein schmaler Laubgang zu dem Gartenhäuschen; hinter demselben befand sich der breite Weg längs des Gitters.
„ Man muß immer rechnen," demonstrierte Monsieur Merkle in den Nachbarsgarten hinüber, „und darum die Menschen erziehen, zur Tüchtigkeit zwingen, ihnen den Daumen aussetzen, bis ihnen die Pflicht in Fleisch und Blut übergegangen ist; das allein bringt Nutzen. Gehen Sie einmal in mein Arbeiterviertel und sehen Sie sich die Wohnungen, die Gärten und vor allen Dingen die Kinder an — gesunde, kräftige, lebensfähige Kinder, keine ausgeschwollenen, skrofulöse, erbärmliche Geschöpfe, wie sie unter den Arbeitern so vieler andrer Fabriken anzutreffen sind. Und warum? Ich sorge dafür, daß die Väter nicht trinken; mir entgeht keiner, der mit einem Rausch heimkommt; fort mit ihm, ohne Erbarmen, bei mir ist kein Platz für Trunkenbolde. Das Mitleid mit den Schlechten ist der Untergang der Guten. Ich habe Feinde, viele Feinde, denn vom Wein lassen sie nicht gern, aber zum Streiken haben sich meine Leute noch nie herbeigelassen, nicht um meinetwillen, sondern weil jeder ein Stückchen Scholle sein eigen nennt, weil er sein selbstgepflanztes Gärtchen, sein Haus, in dem er Herr und Meister ist, nicht aufs Spiel setzen möchte. Natürlich, noch besser haben, den Besitz und die Freiheit dazu, das wär' ihnen schon recht — und sie sind schlau, aber ich bin noch schlauer. Find' ich da am Weg eine alte Großmutter mit ihrem Enkelkind, das im Sand spielt, und sie betet und betet, mit ihrem Rosenkranz zwischen den Fingern, Tag für Tag. Ich frage sie einmal: Mas betet Ihr so viel, alte Frau?' „I bet'' sagt sie, „daß mi Enkeli kei' Süferi ward." — So, denk' ich, holla! und komme zufällig vorbei, wie die Familie der Alten beim Abendessen sitzt — eine starke Familie, auf mehr als dreißig Mark im Tag belief sich ihr Einkommen. Sie haben ihren Kalbsbraten aus dem Tisch und zwei Schüsseln mit jungen Gemüsen. ,Hm,' sag' ich, ,die Hab' ich heut auch zum erstenmal gegessen.' Daraus steigt mir so was in die Nase, und es steht doch keine Flasche auf dem Tisch, unreine großmächtige Kaffeekanne; ich schau' ein wenig hinein — nun ja, guter schwerer Wein ist drin, wie er bei mir nicht täglich aus den Tisch kommt. Und haben sie glücklich ihren ganzen schönen Verdienst durch die Gurgel gejagt, so nennen sie's Arbeiterelend. Drum rechne ich so: Zucht, strenge Zucht, die allein schafft tüchtige Menschen."
„Es muß aber auch heitere geben, liebenswürdige, fröhliche," meinte der Hauptmann, „nicht allen ist die Rute zuträglich — glauben Sie mir, Herr Merkle."
„Ich glaube überhaupt nichts als das, was ich sehe, und das nicht einmal," fiel ihm der Nachbar ins Wort. „Lachen Sie nicht, ich bin ganz gut bei diesem Grundsatz gefahren; Sie hätten gewiß jene Kaffeekanne, die so ehrbar auf dem Tisch stand, für eine brave Kaffeekanne gehalten, es war aber Wein drin. Wenn man recht zuschaut im Leben, so erfährt man, daß es überhaupt eine ungeheure Betrugsanstalt ist, und man thut wohl, sich von vornherein aus das Schlimmste gefaßt zu machen ; das ist die beste Rechnung, die immer stimmt."
„Es könnte aber auch einer ganz die entgegengesetzten Erfahrungen gemacht haben," meinte der Hauptmann, „wie dann?"
„Haben Sie Ihre Erfahrungen untersucht?" fragte Monsieur Merkle, „wissen Sie bestimmt, daß Sie nicht schwarz für weiß und weiß für schwarz genommen haben?"
„Ich weiß nur, daß ich von klein auf recht auf