Heft 
(1898) 26
Seite
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Ueöer cLand und Meer.

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die Güte der Menschen angewiesen war, und daß es nur immer gut gegangen ist. Ich bin früh ver­waist gewesen; man steckte mich ins Kadettenhaus. Wenn nun die Ferien herankamen, so war ich der einzige, der niemand hatte, auf den sich weder ein Vater noch eine Mutter freute. Aber das ist" mir kaum zum Bewußtsein gekommen, denn unter meinen kleinen Kameraden entstand jedesmal ein wahrer Wettstreit, welcher von ihnen mich in den Ferien mit nach Hause nehmen dürfe. Ich lernte so das Familienleben unter allen möglichen Verhältnissen kennen, ich fand es wunderschön, denn nie hat es mich je ein Mensch empfinden lassen, daß die Freuden, die ich genoß, mir ja eigentlich nicht zukamen. Sie dürfen es mir also nicht verdenken, wenn ich an das Gute im Menschen glaube und, statt mit dem Schlimmsten zu rechnen, einfach auf meinen guten Stern vertraue."

Unsinn!" fuhr Monsieur Merkte auf.

Glauben Sie an die Unfehlbarkeit Ihrer Be­rechnungen ?

Unbedingt."

Sehen Sie, das halte ich für Unsinn."

Monsieur Merkle lachte kurz auf; es war ihm plötzlich etwas in den Hals gekommen, er räusperte sich, grüßte und schoß davon.

Wie schade, dachte Jeanne in ihrem Hüttchen, wie manches könnte man doch von der Welt lernen, wenn unsre Herren auch von andern Dingen als Baumwolle und Jagd zu plaudern verständen.

Sie hörte ihre Katze drüben im Nachbarsgarten miauen und trat rasch ans Gitter, um ihr zu rufen. Mit Bichette kam auch der Hauptmann; ganz un­befangen trat er heran, als sei das völlig in der Ordnung, begrüßte das Fräulein, während ihm die Katze zutraulich um die Beine strich, und zeigte nicht die geringste Verlegenheit, obwohl seine Hände ganz erdig waren.

Da haben Sie ja unsern Goethe," sagte er freudig,sind Sie schon sehr weit damit? Haben Sie gelesen, welchen Eindruck ihm das Münster gemacht, und ist es nicht wunderbar, wie er einzig durch seine genaue Beobachtung erkannte, daß der eine Turm nicht ausgeführt war und ihm etliche Turmspitzen fehlten?"

Ich danke Ihnen für das Buch," sagte Jeanne, ich darf es Ihnen wohl hier zurückgeben."

Sie können doch unmöglich schon fertig damit sein?"

Nein, ich"

Dann nehme ich es auch nicht zurück; wirklich, mein gnädiges Fräulein, lernen Sie unsern Goethe kennen; es ist freilich nicht so leicht, seine einfache Größe und Tiefe machen Ansprüche an den Leser; ein oberflächlicher Mensch wird ihn einfach lang­weilig finden; mir ging's auch so im Anfang, aber man muß nur ausharren, mit einemmal fühlt man, wie das Verständnis wächst, und dann läßt es einen nie wieder los."

Wie haben Sie nur preußischer Offizier werden können?" fragte Jeanne.

Der Hauptmann sah sie mit seinen sonnigen, braunen Augen lächelnd an:Das leidige Vorurteil! Wissen Sie, mein gnädiges Fräulein, in jeder Uniform steckt ein Mensch, der seine ureigne Natur hat, seine Anlagen im guten und bösen Sinne. Die

gemeinsamen Lebensbedingungen und die dazu ge­hörenden Formen machen uns äußerlich ähnlich. Aber in allen Kreisen herrschen gewisse Formen, geben Sie nur einmal acht; in Wahrheit sind sich die Menschen überall gleich."

Jeanne sah vor sich hin:Man weiß sich so manches Zu erzählen, wie unbillig, wie hart oft diese Fremden gegen uns Vorgehen, weil wir uns zurück­halten, weil wir noch heute denken wie vor fünf­undzwanzig Jahren. Ich werde nie anders denken."

Was sind fünfundzwanzig Jahre!" entgegnete der Hauptmann.Jenseits des Rheins, im Hauenstein- schen, wohnt ein Völklein, das hängt noch heute mit allen Fasern seines Herzens am Hause Oester­reich, dem es einmal, es sind bald hundert Jahre her, zugehört hat Ihre Stammesverwandten, gnädiges Fräulein; ich, ein geborener Freiburger, zähle auch mit dazu. Das arme Elsaß hat von jeher unter der Zähigkeit seiner alemannischen Treue zu leiden gehabt, das ist doch schöner, als wenn es ein wetterwendisches Volk wäre."

Jeanne bekam einen plötzlichen Schreck; das ging doch nimmermehr, daß sie, wie ihr Vater, hier am Gartengitter lange Gespräche mit dem Nachbar führte! In ihrer Verlegenheit rief sie noch einmal nach ihrer Katze, neigte flüchtig das Haupt und schritt mit ihrem Buch davon. Sie schalt mit sich selber, daß sie abermals die Gelegenheit hatte vorübergehen lassen, dem Eindringling zu verstehen zu geben, daß man ihn los zu sein wünsche. Allein trotz ihrer Unzufriedenheit mit sich selber, Mademoiselle Jeanne saß nun jeden Nachmittag im Gartenhäuschen am Gitter und lauschte den Gesprächen zwischen dem Fremden und ihrem Vater. Sie sagte sich, dies sei die beste Manier, ihre Welt- und Menschenkenntnis zu bereichern, und bildete sich ein, ihr Vater wisse von ihrem Aufenthalt im Hüttchen; er war allerdings einmal durch den schmalen Laubgang gekommen und hätte Jeanne auf ihrem Platz sehen können. Allein der Fabrikherr sah weder rechts noch links, er hatte weiter nichts im Sinn, als sich mit dem Hauptmann zu unterhalten; er wollte diesen Menschen kennen lernen, denn er mußte vielleicht in nicht allzu ferner Zeit dessen Hilfe in Anspruch nehmen. Monsieur Merkle befand sich zum erstenmal in seinem Leben in der Lage, einer Sache nicht Meister zu werden. Dieselbe betraf Jean Gilbert; kein Mensch begriff, was Monsieur Merkle veranlassen konnte, eine solche Langmut für den jungen Mann an den Tag zu legen. Jean war allerdings ein ausgezeichneter Arbeiter, im übrigen aber lehnte er sich fortwährend gegen die Vormundschaft seines Prinzipals auf. Dieser hatte die Sparbücher seiner jungen Leute in Verwahrsam und zog ihnen die Hälfte ihres Gehalts ab, den er auf Zins anlegte.

Jean erklärte, er wolle sein Geld selbst ver­walten, er könne das so gut wie Monsieur Merkle. Er bestand darauf, seine Dienstzeit jetzt schon an­zutreten, obwohl sein Prinzipal wünschte, daß er damit bis zu seiner Einberufung warten möge. Jean erklärte, er wolle die Sache sobald wie möglich hinter sich haben, und verharrte in seinem Eigensinn.

Monsieur Merkle kam schließlich auf den Ge­danken, mit dem Hauptmann über die Sache zu reden; allein obgleich er täglich ans Gartengitter kam, war er noch immer nicht mit seinem Anliegen herausgerückt.

Wäre Jeanne nicht von ihren eignen Erlebnissen so benommen gewesen, die Unruhe und Zerstreutheit des Vaters hätten ihr auffallen müssen. Sie hatte sich allen Ernstes in GoethesDichtung und Wahr­heit" vertieft aus Ehrgeiz, um dem Nachbar sagen Zu können: ich habe das Buch gelesen. Sie las den halben Tag, nur um fertig zu werden; ihr Interesse wurde jedoch plötzlich wach, als Friederike von Sesenheim in Goethes Leben auftauchte; da kam ihr das Verständnis, und Jeanne saß mit glühenden Wangen über ihrem Buch und konnte sich kaum mehr von ihm trennen.

Auch wenn sie im Garten zwischen den herrlichen, in vollster Blüte stehenden Magnolienbäumen dahin­schritt, war sie nicht mehr allein, die Gestalten, deren Schicksal sie ergriffen hatte, begleiteten sie und er­füllten ihr Gemüt mit Unruhe und Sehnsucht. Sie war in den Zauberkreis dieses Buches geraten, sie wußte nicht wie; eine Wanderlust überkam sie, der Wunsch, ihr geliebtes Elsaß, das Goethe mit so innigem Verständnis geschildert, von der Plattform des Münsters überschauen zu dürfen. Sie glaubte, die Unruhe, das Drängen und Sehnen in ihr wäre dann gestillt, und bat ihren Vater um die Erlaubnis, ihre Tante Juliette in Straßburg besuchen zu dürfen. Monsieur Merkle hatte nichts dagegen einzuwenden; vielleicht hätte er zu einer andern Zeit sich Gedanken darüber gemacht, was Jeanne wohl mit einemmal zu ihrer Tante trieb.

Die Schwester Monsieur Merkles, die sich nach dem Tode ihres Gatten nach Familienanschluß gesehnt hatte, hielt es nur ganz kurze Zeit in dem kleinen Fabrikstüdtchen aus; die Langweile und das strenge Regiment ihres Bruders trieben sie schleunigst in ihr geliebtes Straßburg zurück.

Jeanne besuchte ihre Tante zuweilen, diese kam auch zu ihr, allein das stille, zurückhaltende Mädchen und die derbe, überlaute Straßburger Bürgersfrau waren zu verschiedener Natur, als daß sie wohlthuend aufeinander hätten wirken können.

Trotzdem hingen sie aneinander, und die alte

Dame schrie, daß man's durchs ganze Haus hörte, bei dem unverhofften Besuch der Nichte.

Jeanne verschlief mit Absicht am andern Morgen die Frühmesse, die ihre Tante regelmäßig zu be­suchen pflegte, um später ohne Begleitung in die zweite Messe gehen zu können.

Das junge Mädchen, das, französischer Sitte gemäß, sonst nie allein ausging, sah kein Arg darin, das wenige Schritte vom Hause ihrer Tante gelegene Münster allein zu besuchen. Sie machte sich auf ^ den Weg, im Arm den Goetheband, der mit einem , Umschlag versehen war, auf demUeeit ä'uns i reliZieuss« stand. Statt in die Messe zu gehen,

^ bestieg sie die Plattform des Münsters. Dieses erste j selbständige Unternehmen übte einen geheimnisvollen ^ Reiz auf Jeanne aus; ihr war froh und doch auch j wieder ängstlich zu Mute, als koste sie ein ver-

- botenes Vergnügen.

, Sie stand endlich oben, atemlos. Der Wind spielte ^ in ihrem Haar, ihre großen leuchtenden Augen schauten ^ wie weltentrückt in die sonnenbeschienene Landschaft

- hinaus. Ja, das war noch alles so, wie sie es in dem Buche, das vor ihr auf der Brüstung lag, ge­lesen; diese unendliche Masse der kleinen Bäche, die sich zwischen den hohen und niedrigen Bergen hin­durch schlängelten und blitzten und blinkten, wohin das Auge sah, und das Helle mannigfaltige Grün längs der Ufer des mächtig dahinziehenden Nhein- stroms. Dort drüben lag der Schwarzwald

sagte sie halblaut vor sich hin,

Nicht wahr, nicht wahr, mein Fräulein?" rief eine Stimme neben ihr.O, wie freue ich mich, diese treuherzigen Worte hier oben aus einem deutschen Munde zu hören!"

Und Jeanne, die erschreckt aufblickte, gewahrte einen alten, weißhaarigen Herrn, der ihr freundlich zunickte und dann die Hand über die Brüstung des Turmes ausstreckte mit den Worten:Wenn doch diese halsstarrigen Elsässer endlich ein Einsehen haben wollten!"

Da schoß dem jungen Mädchen eine heiße Blut­welle bis in die Haarspitzen:Uaräon, monsieur,

Sie bemerkte noch den betroffenen Blick des Herrn, eine plötzliche Unsicherheit überkam sie, und wie ein Kind, das man auf einem Unrecht ertappt, floh sie die unzähligen Treppen des Münsterturms hinab.

Zu Hause angekommen, rüstete sie sich unverzüg­lich für ihre Pariser Reise. So oft noch irgend etwas sie bedrückt oder beunruhigt hatte, im Kloster war ihr durch den Zuspruch ihrer lieben Nonnen immer wieder der Friede gekommen. Das Erlebnis auf dem Turm hatte sie plötzlich zu sich selber ge­bracht, und mit Schrecken sah sie, wohin sie gekommen war durch das Lesen eines verbotenen Buches, durch den Verkehr mit einem Menschen, dessen freie An­sichten so verderblich auf ihren Seelenfrieden gewirkt hatten. Sie wollte beichten, ihren frommen Er­zieherinnen alles sagen und gerne jede Buße auf sich nehmen!

Sie sagte zu den beiden Hausfreunden, die ge­kommen waren, sich von ihr zu verabschieden:

Ich hoffe zuversichtlich, den Fremden bei meiner Rückkehr nicht mehr vorzusinden."

Martelet versprach:Sie können ohne Sorgen sein, Mademoiselle."

Und als der Kapitän ihm mit vorwurfsvoller Miene zurief:Sie kehren alle Tage drüben an, und es bleibt immer beim alten" erklärte Martelet:

Wir kommen ans Ziel; ich bitte Sie, Made­moiselle, verbieten Sie ihm, sich in die Sache zu mischen; wir müssen höflich auseinander kommen, und dazu braucht es Zeit. Niemand kann sehnlicher wünschen, diesen Hauptmann nicht nur aus dem Häus­chen, sondern auch aus dem Lande zu haben. Denn, glauben Sie mir, die Deutschen können uns nicht mehr schädigen, als indem sie uns Leute schicken, die unsre natürliche Voreingenommenheit durch ihren Charakter und Herzenstakt zu überwinden verstehen."

(Fortsetzung folgt.)