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Deutschland.
Seite 47.
Die in obigem Briefe nicht mit Namen genannte Schriftstellerin gehörte auch zu den Persönlichkeiten ans Geibels Escheberger Tagen. Sie war damals zwar noch ein Kind gewesen, eines Nachbarn Tochter, aber unser Dichter liebte das stille Wesen der Kleinen. Wie treu er sich ihrer auch im Greisenalter erinnerte, möge hier znm Schlüsse stehen. Ferdinande Freiin von Brackel von Schloß Welda, zu jener Zeit, da Geibel gern ihre Eltern besuchte und bei der Pnnschbowle improvisierte, erst siebenjährig, entsann sich seiner Erscheinung natürlich nicht mehr genau, doch als sie 1873 die Erstlinge ihrer eigenen Muse, darunter einige wie der „Buchenwald im Hessenland" ihm, dem Lieblingssünger, gewidmete, einschickte, empfing sie ans Schwartau znm Dank für das erquickliche Werkchen sein „Klassisches Liederbuch" mit dieser ungedruckten
DedikativN. Form ist jegliches Bekenntnis,
Aber zwischen Geist und Geist Giebt's ein höh'res Einverständnis,
Welches keine Form zerreißt.
Dabei lag ein lieber Brief, worin der Besuche in Welda gedacht und die Verfasserin als kleines, blasses, dunkelhaariges Mädchen mit langen Zöpfen beschrieben wird. Sein Gedächtnis hatte ihn nach dreißig Jahren nicht im Stich gelasseil. Eine wiederholte Begegnung in Lübeck schildert nur Fräulein von Brackel also: „Professor Geibel sah schon recht leidend ans, hatte aber viel geistige Frische und Regsamkeit. Es waren prächtige Stunden. Ich bewunderte sehr seine innere Bescheidenheit, die ihm von vielen nbgestritten wird, so daß ich sie ausdrücklich erwähne. Ich hatte ihm einiges über seine Dichtungen gesagt, wie reiz- und klangvoll seine Sprache, wie edel und rein seine Gedanken. «Aber ich habe nichts Großes und viel Unbedeutendes geschrieben,» gab er als Antwort, so einfach, so ungeschminkt, daß es mich rührte. . . . Im Herbst 1881 brachte ich noch einmal den Abend bei ihm zu. Er war gealtert und kränker geworden, indes ungemein gesprächig und angeregt. Wir unterhielten uns erst längere Zeit allein in seinem Arbeitszimmer. Er sprach voll den neuesten dramatischen Schöpfungen, stellte Wilbrandt hoch und wollte mich auch zu dramatischen Versuchen ermuntern, zu denen er Talent in meinen Erzählungen zu entdecken glaubte. Ich erwiderte ihm, daß es ein Gebiet sei, das für die Frauen gefährlich und meist ihrer Veranlagung zu fern liege, da uns die festen Regeln und der architektonische Ban des Dramas nie in Fleisch und Blut libergingen. Er äußerte sich dann noch sehr freundlich über meine Novellen. Später bat er mich znm Souper. Da wurde er immer animierter, brachte Toaste aus und wies jede Ermahnung seiner Verwandten mit den Worten zurück: «Laßt mir doch die gute Stunde, ich fühle mich wieder einmal jung liild froh!» Anschließend an eine frühere Unterhaltung über religiöse Anschauungen, wo wir sehr verschiedener Meinung gewesen, wandte er sich zu mir lind sagte: «Mein Leiden ist ein schweres Kreuz; aber ich will nicht klagen, da Gott es geschickt.» ..."
Auch dies Kreuz hat Emannel Geibel längst überwunden; doch seine ganze Erscheinung: sein poetisches Gestaltungsvermögen, sein sittlicher Wert, seine tiefe Religiosität, sein politischer Seherblick, bleiben unsterblich und wirken erhebend, tröstend, veredelnd und mahnend fort von Geschlecht zu Geschlecht.
Zu seiner Entwickelung hat der Escheberger Boden nicht wenig beigetragen; jeder Hauch, jeder Klang von dort berührte ihn zeitlebens hell und harmonisch. Dort schuf er gern und gut am murmelnden Waldbnch, im hohen Buchenforste, dort erholte sich sein bekümmertes Herz und sog neue Hoffnung ein auf eine glückliche Zukunft. Die ist ihm geworden, und darum verblaßte nimmer das innige Gedenken an seine Escheberger Tage, von denen er so schön singt und sagt:
Du riefest mich,
Mein edler Malsburg — Segen Deiner Gruft dafür! — Gastfreundlich in Dein waldümranschtes Escheberg,
Und dort auf svnn'gen Höh'n mich lüftend, losgelöst Vom kleinen Druck'des Lebens, lernt' ich mächt'ger bald Die Flügel rühren und der eignen Kraft verträum
Jung-Gfsg's Meisen.
Von
Acrnston. (Schluß.)
V.
Auf einer großen Ebene vor der Stadt war die ganze Jugend des Landes versammelt. Mitten unter ihnen stand ein Riese; sein Fuß war so lang wie eine Straße, und seine flache Hand so breit wie ein Markt, und er war so groß, daß er nicht gerade unter dein Himmel stehen konnte, sondern sein Haupt beugen mußte. Seine Stimme war so stark, daß die Jugend des Landes zitterte, wenn er sprach, wie Espenblütter bei einem Windstoß.
„Schlagt Purzelbäume, Purzelbäume!" rief er, und die ganze Jugend des Landes schlug Purzelbäume.
„ Oonells-IL!" schrie er, und die ganze Jugend des Landes kroch wie Hunde zu seinen Füßen.
„Springt!" kommandierte er und hielt seine Reitpeitsche hin. Und die ganze Jugend des Landes sprang über die Reitpeitsche mit wohldressierter Eleganz.
„Scheene Raritäten, scheene Raritäten," lockte er, und die ganze Jugend des Landes kaufte seine schönen Raritäten gegen kontante Bezahlung — kleingemünzte Ehrenzeichen.
Da nahm der Riese einen Liliputaner und Däumling nach dem andern ans seine flache Hand, aber nicht nach der Reihe, sondern handvollweis, und warf eine Handvoll nach der andern in die Luft. Und als das Feld leer war, saßen viele Tausend schwarzes Gewürm rund umher ans allen Kanzeln und Kathedern. Anfangs glaubte ich, es seien Ratten, aber als ich näher hinsah, fand ich, daß es Menschen waren, und endlich erkannte ich: es war die Jugend des Landes.
VI.
Ich saß in der Stube und um mich herum saßen alle meine Freunde. Mein Blut war heiß, mein Herz voller Unruhe, und mein Atem ging schwer. Da sprang ich auf und ging ans und nieder ans der Diele.
„Was fehlt Dir?" riefen meine Freunde.
„Mir ist so beklommen und die Luft ist schlecht."
Da zuckte es in ineinen Freunden und sie saßen stumm und starrten mich an.
„Das bildest Du Dir ein," sagte der, der sein eines Auge für ein Comptoirpult verkauft. „Weshalb haben wir andern nichts davon bemerkt?"
„Seht Ihr nicht, wie die Sonne scheint; wollen wir alle Thüren lind Fenster anfmachen?"
„Dann Holen wir uns einen Schnupfen," witzelte der Humorist und kroch in die Ofenecke, wo er alsbald zu schnarchen begann.
„Unsere Stube ist so gut, wie alle andern Stuben," deklamierte er, der immer deklamieren mußte, seitdem er einmal seine natürliche Stimme in einer Schlammpfütze verloren.
„Paßt sie für uns, so,wird sie wohl auch für Dich passen," geiferte er, der seine Überzeugung einmal für ein Zwanzigpfennigstück verkauft hatte in dem Irrtum, daß es ein Goldstück sei; seitdem bekam er ein saures Ausstößen im Gewissen, sobald er irgendwo eine eigene Meinung witterte.
„Rollt die Gardinen herab, so scheint die Sonne nicht herein," flüsterte er, der sich niemals laut zu reden erdreistete, seitdem er einmal von seinem Herrn einen Fußtritt erhalten, als er zu sagen gewagt, dessen Hund Hütte lange Ohren.
„Es fehlte bloß, daß Du uns und unsere warme Stube verließest, nur in die Wüste zu gehen," höhnte er, der seinen Plumpfuß schleppte, als ginge er mit Eisen um die Beine.
„Du sagst das rechte Wort," rief ich, und von meinem Gesicht ging Sonnenschein über das Zimmer.
Da fuhren alle meine Freunde auf von ihren Plätzen. Und der Einäugige durchbohrte mich mit seinem einen Auge; und der geschnarcht hatte, wurde wach und sah dumm aus,