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Deutschland.
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an den Straßenecken seine Geige kratzt und dazn von Zeit zu Zeit in ein Horn bläst, das ihm über der Schulter hängt. Und weiter: in den ichthyosanrcnlangen „Strandkarren," ans denen er das Korn vom Hafen herauf-, znm Hafen hinabfährt; dem Grundwasfer, das ihm gelegentlich ellenhoch in seinen Keller steigt: den Ratten, von denen seine Böden überschwürmt sind; dem Zunftzwang, dem sich seine Handwerker unterwerfen; dem Kastengeist, den sich seine Bürger gefallen lassen müssen; dem „Vogelschießen," das alljährlich einmal im Sommer, -- wie in Korinth die Wettspiele der Griechen Stämme, — so die Gingeborenen jung und alt, vornehm und gering: Senatoren, Ratsverwandte, Groß- und Kleinbürger auf der Vogelwiese froh vereint.
Das Vogelschießenfest ist der Silberblick des Stralsnnder Lebens, dessen Eintönigkeit es für ein halbes Jahr mit der holden Erinnerung an das letztvergangene durchleuchtet und das andere halbe Jahr mit der frohen Erwartung des nüchst- kommenden erwärmt. Während der dem Fest geweihten Woche herrscht in der Stadt ein satnrnalischer Zustand: die Geschäfte ruhen, die Arbeit feiert, alle Welt ist „ans dem Häuschen," nicht bloß in der übertragenen Bedeutung des Wortes. Nur die Kranken und Brefthnften, oder anderweitig schlechterdings Unabkömmlichen sind in der verödeten Stadt zurückgeblieben. Wer nur noch halbwegs gesunde Beine hat, ist draußen, wo um das Schlitzenzelt, als Mittelpunkt, sich die anderen Zelte breiten - eine ganze Stadt. Denn jede Familie, die es sich leisten kann, hat ihr eigenes Zelt, in welchem vom Morgen bis zum Abend für die Verwandten und Befreundeten offene Tafel gehalten wird, während das levo vul^u« der minder glücklich Situierten durch die Kaffee-, Bier- und Punschzelte schwärmt, an den Honigkuchen- und Spielwarenbnden würfelt, die Karnsfellpferde in Atem hält; es überall singt und jauchzt, trommelt, geigt und dudelt, und durch den vieltönigen Lärm vom Schießplätze in abgemessenen Pansen der Knall der Büchsen dröhnt. Sie haben es aber auch dazn, die Büchsen! Wenn sie nicht aus der Zeit der Wallensteinschen Belagerung stammen, so kann sie doch keiner, „wie jetzt die Menschen sind," hantieren. Sie müssen mit einer besonderen Maschine geladen, für den Schuß aufgelegt werden, und es gehört eine kräftige Schulter dazn, um den Rückschlag von dem Schüsse anszu- halten. Aber der Vogel, dem es gilt, ist auch solcher Büchsen wert: ein riesiges, ans festem Eichenholz gezimmertes, rot bemaltes, mit einer Krone geschmücktes, lang vorgestreckten Halses auf ausgespannten Schwingen an die Spitze der turmhohen Stange kunstvoll geschmiedetes mythologisches Ungetüm, das es an Zähigkeit der Widerstands- und Lebenskraft mit dem dicksten Aberglauben anfnimmt. Schon ist der Abend des zweiten Tages angebrochen und die Schar seiner Angreifer da unten - der Biedermänner mit den derben Schultern und Fäusten, den falkenscharfen, blauen Augen in den braunen, erregten Gesichtern — hat ihm noch immer nicht den Garaus machen können. Zwar Krone, Kopf und Kragen, die mächtigen Schwingen, den charaktervollen Schweif hat es gestern bereits eingebüßt: der eichene Leib ist ihm heute Stück für Stück abgesplittert worden bis ans ein allerletztes, nur noch ein paar Kubikzoll messendes. Aber gerade um das handelt es sich. Solange das noch festsitzt, ist der Vogel nicht „abgeschossen" und ermangelt die brave Schar ihres „Königs," des „neuen" nämlich. Der „alte," der vom vergangenen Jahr, könnte es
zwar znm zweitenmal werden; aber er hat eben seinen Schuß abgegeben, - umsonst: und bis er wieder an die Reihe kommt, ist der entscheidende sicher längst gefallen. Die Aufregung hat jenen höchsten Grad erreicht, in welchem keiner mehr sprechen mag, kaum noch zu atmen wagt. Die Augen der tausend- köpfigen Menge, die in diesem kritischen Momente von allen Seiten, Ecken und Enden ans dem Zeltlager znsammengeströmt ist und in geschlossenen Massen den streng abgegrenzten eigentlichen Schießplatz nmgiebt, -- sie haben nur ein Ziel: jenes faustgroße, in der Dämmerung kaum noch erkennbare formlose Stückchen Holz da oben auf der Stange. Zu einer Ewigkeit ist den Harrenden die halbe Minute geworden, die der Schütze, der am Schuß ist, nun schon im Anschläge liegt. Endlich fährt ein rötlicher Blitz ans dem empvrgestreckten Büchsenlauf: seinen Donner verschlingt der Jnbelrnf der Menge: Hurra! Hurra! Hurra dem Schützenkönig! — Glückseliger Mann! Er würde mit keinem wirklichen Könige tauschen, während ihm jetzt die Väter der Stadt — voran der Bürgermeister, die andern mmunäuin onlinc-m — zu seiner Würde gratulieren; die silberne Ehrenkette von der Brust des alten Schützenkönigs an die seine wandert, und er, so geschmückt, nach manchem tiefen Ehren trnnk mit demselben Pomp, mit welchem man gestern morgen anszog, unter Trommelschlag und Pfeifenklang, rechts und links neben ihm barhäuptig die beiden jüngsten Senatoren, um- braust von der jubelnden Menge, in die abendliche Stadt zurückgeführt wird.
Ich vermute, daß der Stralsnnder von heute seine geliebte Stadt und ihr Leben in dieser Schilderung nicht wiedererkennt: aber was kann ich dafür, daß seine Erinnerungen nicht fünfzig und einige Jahre znrückreichen? Ich gebe ihm ohne weiteres zu, daß seine Stadt heute in jeder Beziehung auf der Höhe der Zeit steht; wie jede moderne Stadt sich der Vorteile der Gasbeleuchtung, Kanalisation, Wasserleitung, gangbarer Trottoirs erfreut: auf der Eisenbahn angekommene Fremde sogar Droschken vorfinden. Nur die Versicherung muß er mir gestatten: in meinen Augen hat sie, im Vollbesitz aller dieser nützlichen Neuerungen, nur anfgehört, das höchst charakteristische Unikum zu sein, als welches sie in meiner Erinnerung wandel- los fortlebt. Und kann ich ihn weiter versichern: nicht bloß als ein Charakteristisches, sondern, trotz jener vbbemeldeten Eigentümlichkeiten, an und für sich Schönes.
In welchem ich, rückwärtsdenkend, mich ergehe wie in einem Zaubergarten, der von einer Sonne, einem Mond beschienen wird, wie sie sonst nirgends auf der Welt scheinen. Und dieser Zauber liegt für mich nicht nur auf der alten Stadt mit ihren von Krähen umschwärmtcn, ehrwürdigen Kirchen, — er breitet sich von ihr weiter über die stillen, umbusch ten Teiche, die zusammen mit dem Meere das Terrain, auf dem sie liegt, zu einer Insel machen: über die in Gärten eingebetteten Vorstädte, ans denen man dann, kann: den Übergang merkend, in das eigentliche platte Land gelangt: prächtige Wiesen, endlose Kornfelder mit ihren einzeln liegenden Gntshöfen, — idyllische, von dunkeln Waldstreifen eingerahmte Bilder, die einander zum Verwechseln gleichen, wenn mail sie ans den Fenstern des dahinrasselnden Eisenbahnznges sieht, und von denen doch jedes für den sinnigen Wanderer seine ganz bestimmte Physiognomie hat. - ^Fortsetzung folgt.)