Heft 
(1889) 03
Seite
51
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^ 3. Deutschland. Seite 51.

Groß- und Klemrussen.

Von

Kcrrt' Gmik Ircrnzos.

^^^on einer Nationalitäten-Frage in Rußland ist - - :venn (^7^ man die Polen nnd die Balten abrechnet - in euro­päischen Zeitungen kaum je die Rede; daß dieRussen" der offiziellen Statistik des Zarenreichs so wenig ein einheitliches Volk sind, als etwa die Bewohner der Schweiz, ist eine Wahr­heit, die wenige wissen, geschweige denn gar in ihrer vollen Bedeutung erkennen. Hört man zuweilen, daß dem herrschen­den großrussischen Stamme der unterjochte kleinrnssische gegen­übersteht und mit der Kraft der Verzweiflung um die Erhal­tung seines Sondcrlebens ringt, so denkt man dabei höchstens an provinzielle Besonderheiten, die den Westen nicht interessieren können. In Wahrheit aber handelt es sich um zwei grund­verschiedene Völker, die durch alles getrennt sind, was Völker scheiden kann, durch Sprache, Sitte, Typus, Geschichte nnd R atio n a l b ew nßts ein.

Ter Ursprung freilich ist ein gemeinsamer: bis zur Er- ' obernng durch die Mongolen (1240) waren die slavischen Be­wohner Rußlands, obwohl in unzählige Kleinstaaten zerspalten, doch in Sprache und Sitte ein Volk. In geistigen.Dingen hatte der Süden die Führung, namentlich Kiew; hier erstan­den die ersten ehrwürdigen Sprachdenkmale, das Jgorslied, die Annalen des Nestor: zu politischer Macht aber konnten es auch die Kiewer Fairsten nicht bringen, so wenig wie ihre nordrnssischen Vettern: so unterlagen sie getrennt dem mongolischen Ansturm. Von da ab sind Nord nnd Skid getrennte Wege gegangen: der Norden vermischte sich mit den mongolischen Elementen nnd wurde zur Heimstätte einer neuen, der großrussischen Na­tionalität: der Süden blieb fast reinblütig, geriet aber nacheinan­der unter die Herrschaft der Litauer, dann der Polen, nnd ver­mochte seine Sprache, die Tochter der altrussischen, die klein- russische, nur deshalb zu bewahren, weil die einzig wirksamen Mittel einer Entnationalisierung, die geistigen, der Anschauung der Zeit völlig fern lagen: auch der orthodoxe Glaube, der die Unterjochten von ihren Herren unterschied, wurde ihnen an­fänglich ungestört belassen. Als dann, im 16. Jahrhundert, die Polen erkannten, daß das Helotenvolk durch die verschiedene Sprache, den verschiedenen Glauben eine Gefahr für ihr Staats- wesen bedeute, erwies sich diese Erkenntnis als zu spät ge­kommen: die Kleinrnssen setzten dem Mllssionskrenz des Jesuiten trotzige Gleichgültigkeit, dem Schwert des Woiwoden aber, welches das Katholischmnchen besorgen sollte, die Sense nnd den Dreschflegel entgegen. So charakterisiert sich die Geschichte der Kleinrnssen unter polnischer Herrschaft als ein steter Kampf des Schwachen gegen den Starken, bei welchem der letztere doch nur scheinbar znm Ziele gelangt: jeder gewaltsamen Be­kehrung folgt eine Rückkehr znm alten Glauben, jederPaci- siziernng" ein neuer Aufstand, bis der östliche Zweig des unterjochten Volkes, der in den Steppen zwischen Don nnd Wolga ungestört seinen: Kriegs- nnd Raubhandwerk nach­gegangen, in die Geschicke desselben eingreift die Kosaken. Mit ihrer Hilfe erringt Bogdan Chinelnicki mindestens den öst­lich von: Dnjepr wohnenden Kleinrnssen die Unabhängigkeit von: Polenstaat, die freilich bald gegen das russische Joch ver­tauscht werdet: muß, weil die Befreiten zu schwach sind, sich zwischen den beiden mächtigen Staaten zu behaupten. Der Anschluß an Rußland geschieht freiwillig: durch den Vertrag von Perejaslaw HI 654V Zar Alexei verbürgt den Kleinrnssen für die Anerkennung seiner Sonveränetät das Recht der Selbst­verwaltung nnd voller nationaler Freiheit. Rechnet man hin­zu, daß esRechtgläubige" waren, unter deren Tchntz sich das östliche Kieinrnßland durch diesen Vertrag stellte, während das westliche bei dem katholischen Polen verblieb, so darf es nicht wundern, daß es damals als ein Glück erschien,an: linken Ufer geboren zu sein," also unter moskowitischen: Schutz

zu stehen. Aber es war ein zweifelhaftes Glück, wie wir nun des näheren darlegen wollen.

Die Kunst zu lernen und zu vergessen, hat keine Nation in geringerem Grade verstanden, als die Polen. Dies gilt auch von dem letzten Jahrhundert ihrer Selbständigkeit und ihren: Verhältnis zu den Kleinrussen in der Zeit von 1686 bis 1795, während welcher Jahre sie suceessive diese ihre Unter- thanen verloren, zum größten Teil an Rußland, zum kleineren an Österreich. Die Tendenz der Entnationalisierung und Ka- tholisiernng blieb dieselbe und wurde in Thaten umgesetzt, wo und wie es anging; aber wenn auch der Wille ungeschwächt sortwirkte, so zwangen doch die Verhältnisse zu einer teil­weise:: Änderung der inneren Politik. Der hinsiechende Staat hatte mit der inneren Zwietracht und den äußeren Gefahren soviel zu schaffen, daß ihn: für gewaltsame Bekehrungen die Kraft fehlte; auch hatte man die Bauernrevolten nur als solche ließen nnd lassen noch heute die polnischen Historiker die Kümpfe Chmelnickis, seiner Vorgänger und Nachfolger gel­ten, um den nationalen Charakter derselben nicht eingestehen zu müssen fürchten gelernt, nnd ein noch weitaus kräftigerer Zügel war die Angst vor der Einmischung Rußlands, welches stets auf den: Sprunge stand, den bedrohten Gkaubensbrüdern beizustehen, als Mittel zum Zweck, Polen zu seinem Vasallen­staat zu machen. Mit Mut und Energie die letzte Konsequenz dieser Verhältnisse zu ziehen, aus der Not eine Tugend zu machen, den Dissidenten volle Glaubens- und Sprachenfreiheit zu gewähren und dadurch nicht bloß den: gierigen Nachbar die Handhabe zur Einmischung zu entziehen, sondern auch die Sympathie aller Kleinrussen, selbst jener in: Zarenreich, sich zuznwenden zu all dem reichte die politische Einsicht, die moralische Kraft der «U-eLpullliva Uoloviu» und ihrer Schatten­könige nicht ans; man begnügte sich mit halben nnd zwei­deutigen Mitteln und statuierte das Kuriosum, daß derselbe Staat dieselbe Nationalität je nach dem Wohnort ein Jahr­hundert hindurch verschieden behandelte. In Galizien, Podo- lien, Volhynien, kurz iu allen von Rußland fernliegenden Woiwodschaften wurde der alte Druck konsequent fortgeübt, nicht bloß durch Mittel der Gewalt, sondern auch der Intelli­genz und der Bestechung, und hier gelang es denn der polnisch- jesuitischen Propaganda wirklich, im Laufe der Jahre auch den Bürgerstand und die höhere Geistlichkeit für sich zu gewinnen, so daß die kleinrnssische Bevölkerung Galiziens, als das Land an Österreich siel, thatsüchlich nur, wie der polnische Spott­reim besagte, aus «pop» und «olllop» (Priester und Bauer) bestand, in welchen das Nationalgefühl nur noch gleichsam instinktiv fortlebte. Anders in den an Rußland grenzenden Landesteilen, wo es galt, jeden Anlaß zur Einmischung fern- znhalten, ja sogar, wenn möglich, bei den unter russische Herr­schaft geratenen Kleinrnssen moralische Eroberungen zu machen. Hier war die Praxis eine gelinde; hier kam keine offene Ge- waltthnt in größeren: Stile vor; ja zuweilen wurden die Ketzer" sogar mit großer Ostentativ::, allerdings nur iu klei­nen Dingen, begünstigt. Die neuerdings ausgesprochene Litte- ratur, hauptsächlich populär-theologischen Charakters und gegen den Katholizismus gerichtet, mußte den Polen naturgemäß ein Dorn in: Auge sein, aber mau ließ sie, einige kleinliche und zaghafte Hinderungen abgerechnet, gewähren. Freilich konnte diese Diplomatie der Schwäche nicht mehr nützen; die Klein­rnssen hielten an ihren Gesinnungen fest: der Pole war nun einmal der papistische Erbfeind, von dem nur Schlimmes kom­men konnte. Und eben darum kam so wenig Schlimmes von ihm. Nur an den Abhängen der Karpathen eine teilweise Ab­leitung des nationalen Lebens, in den anderen Landesteilen ein Aufschwung desselben, - dies das Faeit des letzten Jahr­hunderts polnischer Herrschaft.

Anders und schlimmer gestalteten sich die Schicksale jenes größeren Teils der Nation, welcher an Rußland gefallen. Hier waltete ein starkes, ja eisernes Regiment: hier waren Herrscher und Beherrschte durch denselben Glauben verbunden nnd die letzteren nicht von vornherein mißtrauisch. Die moskowitische Politik gegen Kleinrußland, eine Politik von größter Konse-