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Deutschland.
haben sich dem Geschmack an Zoten nicht immer zu entziehen gewußt- Trotzdem steht in Frankreich mitten inne zwischen diesem unsauberen Treiben und den breiten, nicht eben appetitlicheren Bettelsuppen der Jungfrauenschriften, in ungeschwächter Kraft die echte französische Litteratur mit ihrem freien Realismus. Es ist kein Zufall, daß der litterarifche Weltmarkt fast noch inehr, als der Bildermarkt, diesem französischen Realismus gehört; gewiß spielt dabei, namentlich was Deutschland betrifft, die weitverbreitete Kenntnis der französischen Sprache eine Rolle, aber die Freiheit von aller Prüderie ist es doch vor allem, was in der wahren französischen Litteratur, seit mehr als hundert Jahren, die ganze gebildete Welt anzieht. Nicht nur die deutschen Bncherspeknlanten, welche mit schüchternen Versuchen den Geschäftsbetrieb der Pornographen nach- znahmen suchen, beneiden französische Kollegen um diese Freiheit. Auch deutsche Dichter, im Vollbewußtsein ihrer Kraft und ihres Ruhms, haben schon nach dem Lesen von Balzac oder Goncourt, von Flanbert oder Daudet ansgerufen: „Warum dürfen wir das nicht wagen?"
Tue Frage ist falsch. Sie müßten fragen: „Warum wagen wir das nicht?" Denn kein äußerer Zwang würde sie hindern, lebendige Stoffe zu wählen, wie die Franzosen. Flau- berts „Madame Bovarh," welches unter dem dritten Napoleon verfolgt wurde, wäre in einem deutschen Staate nicht belästigt worden und im Deutschen Reiche noch weniger. Was diejenigen unserer Dichter, welche überhaupt realistische Neigungen haben, — und die anderen kommen hier nicht in Betracht — am offenen Bekennen hindert, das ist nicht die Macht der Polizei, sondern die der Prüderie. Die Sitte ist ihr Tyrann, aber diese Sitte ist größtenteils Heuchelei.
In vielen Kreisen ist allerdings bei uns die Trennung der Geschlechter nach ihrer geistigen Nahrung fast ebenso strenge durchgeführt, wie in Frankreich; hier ist die Prüderie allerdings vielfach echt, wenn es auch seltsam scheinen mag, daß die jungen und alten Herren gerade dieser Gesellschaft rücksichtslos das zu seiu pflegeu, was man gemütlich und höflich einen Lebemann zu nennen pflegt. Ist es nun schon bedenklich, wenn hier zwischen Mann und Frau eiue Schranke anf- gerichtet wird, als ob nur der Mann ein freier Mensch, das Weib aber entweder eine überirdische Fee oder eine willenlose Sklavin wäre, so ist die Prüderie unserer Bürgerkreise vollends eine Sünde an der Wahrheit. Nicht nur iu Kunst und Litte- ratnr, sondern sogar in wissenschaftlichen Fragen wird das Weib den unmündigen Kindern gleich geachtet, und wenn ihr geistiges Streben sie nach festerer Nahrung greifen läßt, als nach Kinderbrei, so schreit die Prüderie der Basen und der Vettern um Hilfe.
Ans zwei Gebiete namentlich erstreckt sich die Macht der Prüderie: auf den Gebrauch starker volkstümlicher Ausdrücke und auf alle geschlechtlichen Verhältnisse, soweit sich diese nicht in den Formen einer Jugendliebe aussprechen lassen. Diefe beiden Jagdgebiete der Prüderie haben gar nichts miteinander zu thnn, so oft sie sich auch zu berühren scheinen. Die Scheu vor starken natürlichen Ausdrücken ist eine durchaus anerzogene, historisch gewordene und darum wechselnde. In der guten alten Zeit des Mittelalters haben die edelsten Jnngfrünlein kräftige Worte in den Mund genommen, und man weiß, wie wenig kanzelfühig heute die Sprache Luthers wäre. Hier ist es einfach der Sprachgebrauch des Jahrhunderts, der gegenwärtig noch prüde ist, und. den man nicht immer als Heuchelei bezeichnen darf.
Die Scheu vor geschlechtlichen Dingen dagegen, ja noch weiter: die Scheu vor allem, was mit Geburt und Tod zn- sammenhüngt, ist einerseits tief in der menschlichen Natur begründet, andererseits aufs äußerste den Übertreibungen der Heuchelei ausgesetzt. Die Prüderie stellt sich verschämt auch da, wo die Natur von Scham nichts weiß, und stellt so an den ehrlichen Menschen Anforderungen, welche er nur zum Schein erfüllen kann. Dadurch wird die Prüderie nicht nur der Kunst gefährlich, welche auf Wahrheit beruhen muß, sondern auch der echten Moral. Homer ist nicht prüde und die Bibel noch weniger; wohl aber die Marlitt und unsere Andachtsbücher.
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Unser Gedankengang hat uns aber unvermerkt zu der einfachsten und kürzesten Erklärung des Begriffs „Prüderie" geführt: Prüderie ist geheuchelte Scham, also etwas Unmoralisches, doppelt unmoralisch, weil sie in ihrer verdorbenen Phantasie an Dingen Anstoß nimmt, gegen welche die Keuschheit in Person nichts einzuwenden hätte. Die englische Lady, welche, nach dem bekannten Scherze, die Beine ihres Tisches bekleidete, weil durch das nackte Holz angeblich ihr Schamgefühl verletzt wurde, ist die verkörperte Prüderie.
Weil aber ihr zweites Verbot sich doch auf ein Naturgesetz berufen kann, weil die jugendliche Scham zur echten Liebe gehört, wie Blütterhülle zum Veilchen, darum ist die Grenze schwer zu ziehen, wo die edle Scham aufhört uud die gemeine Prüderie beginnt. Jedenfalls aber darf man behaupten, daß die Freiheit der Kunst und der Poesie noch größer sein müsse, als die, welche sich etwa ältere, gut befreundete, anständige Männer und Frauen im Gespräche herausnehmen dürfen.
Am 20. Oktober führt die Freie Bühne das Drama „Vor Sonnenaufgang" auf, in welchem die Prüderie schon seit vielen Tagen nach starken Worten und nach unerlaubten Liebesbe- tenernngen nmhergeschnüffelt hat. Es wird erst in der nächsten Nummer gestattet seiu, das Werk des jungen Dichters auf seinen Kunstwert zu prüfen. Schon heute aber kann versichert werden, daß der Prüderie kein Gefallen erwiesen werden soll. Gott schütze die Kunst vor der Bank der Prüderie; die Bank der Spötter ist ihr nicht so gefährlich.
KLeine Kritik.
SN
Moderne Totengcspriiche. Von Lneian dem Jüngeren. (Berlin, Verlag von Richard Eckstein Nachfolger (Hammer und Runges).
Wer den Titel von einein der geistreichsten Werke der Weltlitte ratur auf sein neues Buch setzt, macht gewöhnlich eine Anleihe, welche er nicht bezahlen kann. Es ist Verdienst und Reichtum genug, wenn die moderne Nachahmung die Erinnerung an das Urbild nur soweit verträgt, daß der Leser das neue Buch trotz der Erinnerung au das alte zu genießen vermag. Die „modernen Totengespräche" verdienen noch ein weiteres Lob. Sie sind in einer geschmackvollen, einfachen Sprache geschrieben, und nirgends ist der Versuch gemacht, den leisen Humor des Verfassers künstlich zu starken Wirkungen zu zwingen. Zn bedauern ist nur, daß der Verfasser es mit dem Titelwvrte „modern" in der Form nicht ernst nimmt. Die Personen der kurzen Gespräche sind immer wieder Äakns, Charon und Merkur, für welche recht gilt die entsprechenden Würdenträger der mittelalterlichen Holle hätten gesetzt wenden können. Aller Spaß, welcher aus den Göttermasken des alten Lu cian noch zu ziehen war, ist in den Operetten Offenbachs enthalten: wirklich moderne Tvtengespräche müßten sich auch ohne antike Mythologie behelfen können. Der Inhalt des Büchleins aber ist Geist von unserm Geist, voll milder Weisheit, nicht aufregend, doch immer anregend, r.
Die Bergpredigt. Roman aus der Gegenwart von Max Kretzer. Zwei Bände. ;E. Piersons Verlag, Dresden und Leipzig, 1890.)
Das starke Talent von Max Kretzer, welches bisher immer auf einer unvollkommenen Entwicklungsstufe stehen geblieben war, hat in den: vorliegenden Romane einen energischen Schritt nach aufwärts gemacht. „Die Bergpredigt" hat sich die große Aufgabe gestellt, die Hilflosigkeit der herrschenden Kirche gegenüber der moralischen Not der Verkommenen zu schildern. Die Nachtseite des Berliner Lebens war schon in den ersten Büchern Kretzers seine starke Seite; auch diesmal ist ihm — und in erhöhtem Maße — alles das am besten gelungen, was das Volkstümliche und Landschaftliche Berlins genannt werden kann. Namentlich