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eine geschiedene Iran. Die Rettnng nnd Versöhnung endlich konnte ansgehen von: einem Fürsten, einem unglücklichen Millionär, einen: spleenigen Engländer, einem Onkel, einer Tante, einem Vorgesetzten, einem Kollegen, einem Nachbar, im Notfälle genügte anch ein Brief oder ein Telegramm ans Amerika, Indien, Afrika, Australien oder St. Petersburg. Die Handlung selbst konnte spielen: in einem Schlosse, einer Stadtwoh nnng im Keller, im ersten, zweiten, dritten, vierten oder fünften Stocke, in einem Dorfe, einem Försterhanse, einer Kaserne.
Der einfachste Verstand begreift, daß die Kombination dieser verschiedenen Nnaneen weit über zehntausend verschiedene Weihnachtsgeschichten zu bieten vermag; denn ein Förster, berückt seiner Tochter durch ein Telegramm ans Sansibar am Weihnachtsabend glücklich wird, ist doch etwas ganz anderes als ein Lehrer, der seine Braut heiraten kann, weil seine Tante ihm am Weihnachtsabend verziehen hat.
In dieser Weise alsv trieb Wilhelm Lehnrann sein Geschäft seit mehr als zehn Jahren nnd durste sich in den Weihnachtstagen rühmen, daß er augenblicklich — wenn anch unter vielen Decknamen — der gelescnste Schriftsteller Deutschlands sei. -
So war wieder ein Weihnachtsabend herangekommen, nnd Lehmann hatte kurz vor Dunkelwerden sein letztes Manuskript in eine Redaktion getragen, welche die Weihnachtsgeschichte jedesmal zu bestellen vergaß nnd darum jedesmal an Lehmann ein dopp.ltes Honorar bar anszahlen mußte. Mit dem Gelbe in der Tasche eilte er in seine Kneipe. Ans vielen Fenstern leuchteten schon die ersten Christbanmkerzen, nnd Lehmann hatte ein unklares Gefühl davon, daß er sein Glück dem Jubel verdanke, der hinter all den erleuchteten Fensterscheiben zu vermuten war.
Er traf im Wirtshause einen Freund, einen gleichgesinnten Gerichtssaal-Reporter, der Vorschlag, das Fest mit echtem Münchener Bier zu begehen. — —
Gegen elf Uhr waren beide durch das ungewohnte Getränk in so hohem Grade erregt geworden, daß sie zum erstenmal, seitdem sie einander kannten, zu zanken anfingen, nnd zwar über — die Auslegung eines Dogmas. Der Reporter verteidigte den Wortsinn; der Weihnachtsdichter spielte den Freigeist nnd berief sich darauf, daß er die theologische Laufbahn anfgegebcn hätte, um kein Heuchler zu werden.
„Mit Deinen Grundsätzen Geistlicher zu sein," rief sein Freund, „ist nicht schlimmer, als von Deinen Weihnachts- gcschichten zu leben! So oder so treibst Du Handel mit dem religiösen Sinne Deines Volkes! Sv oder so bist Du ein Betrüger!"
Sie trennten sich in tiefster Erbitterung.
Wilhelm Lehmann verließ die Kneipe, wie er glaubte, in Hellem Zorn; aber schon nach wenigen Schritten weinte er bitterlich nnd wußte nicht, ob die Beleidigung, oder die Rene über ein verfehltes Leben, oder das starke Bier die Thrünen verschuldet hätte.
Er brauchte ^inen Gang nicht zu meistern; die schneebedeckten, frostharten Straßen waren menschenleer, nnd nur ans wenigen Fenstern strahlte noch Kerzenglanz.
Nicht gar weit von seiner Behausung brannte in einer- armseligen Weihnachtsbnde noch ein Lichtstümpfchen. Eine alte Frau ordnete darin bereits die Glückwnnschkarten, welche sie von morgen ab bis Neujahr zu verkaufen gedachte. Von ihrer Weihnachtsware war nichts mehr zu sehen, als zwei jämmerliche, vergoldete Schäfchen.
Lehmann blieb eine Weile vor der Bude stehen. Er war wirklich denkfaul nnd mußte lange nachsinnen, bevor ihm cinficl, was er eigentlich wollte. Endlich rief er: „Sie treiben also Handel mit dem religiösen Sinne Ihres Volkes?"
„Ach, lassen Sie mir in Ruh'! Oder wollen Sie mir was abkanfcn?"
„Jawohl; aber erst beantworten Sie mir die Frage: warum stellen Sie solche vergoldete Schafe her nnd nichts Kunstvolleres?"
„Sie wollen mir woll uzen? Weil die Leute vergoldete Schafe haben wollen. Kaufen Sie mir doch die beiden letzten ab. Ick gebe sie Ihnen für sechs Dreier."
Lehmann legte ein Zwanzigpseniiigstück ans das weißgetünchte Brett der Bude nnd steckte die beiden Schäfchen umständlich in die Seitentaschen seines Rockes. Dann wollte er der Alten durchaus die Hand reichen nnd ihr danken. Erst als sie grob wurde, trollte er sich weiter.
„Das ist ein braves Weib!" sagte er laut, während er die Straße suchte, in welcher er wohnte. „Sie hat mich ganz beruhigt. Ich bin kein Lump, kein Betrüger. Die Leute wollen nichts anderes als vergoldete Schafe. Ich werde sie dein. . . dem . . . Reporter schenken nnd ihm sagen, was die brave Frau gesagt hat."
Aber er weinte doch wieder still für sich hin, als er das Schlüsselloch an seiner Hansthür nicht gleich finden konnte.
Kkeine Kritik.
Bon den neuen litterarischen Bolksheften (Litteratnrbriese an einen deutschen Marineoffizier in Ostafrika, Berlin, Richard Eckstein Nachfolger) ist die neueste Nummer, die siebente, einen: litterarhistorischen Thema gewidmet: „Die französische Revolution im Spiegel
deutscher Dichtung" nennt sich diese Flugschrift, welche, wie ihre Vorgängerinnen, einen maßvollen Standpunkt mit gesundem Menschenverstand und in einer sehr flotten Sprache vertritt. Ruch wer weder den AnT gangs- noch den Zielpunkt des Verfassers teilt, wird sich durch die Dar stellung angezogen fühlen. -r.
Rajadar und Hcllmischu, altägyptischer Gesang mit achtzig Bildern nach dem Leben von C. Al. Sehppel. (Verlag von S. Fischer, Berlin.)
Man braucht nicht ein Lügner zu sein, um über das vorliegende archaistisch ansgestattete Büchlein eine sogenannte glänzende Reeension schreiben zu können. Wer über diesen Lurusbierzeitungshmnor Herz lich zu lachen vermag, mit dem ist nicht zu streiten, wenn er „Rasa dar und Hellmischu" als eine Perle dieser Art von Litteratur preist und in denselben Ausdrücken verlangt, daß jede Jungfrau für Georg Ebers und jeder Jüngling für C. M. SeyPPel sich begeistern müsse. Aber gerade weil wir es da mit einein hübschen Talent zu thnn haben, darf endlich einmal ohne persönliche Spitze gegen diese Art Bücher Protest eingelegt werden. Zwei gut gelaunte Studenten wären binnen weniger Stunden im stände, diesen Scherz für die Bierzeitung ihrer Festkneipe zu reimen und auch wohl die Zeichnungen dazu zu skizzieren. Werden die Bilder im Stile ägyptischer Kunstwerke so sein ausgeführt, wie es hier Sehppel gethan hat, so findet man den Scherz auch mit Vergnügen in: „Humoristischen Deutschland" wieder und wendet lachend ein Biertel- stiindchen daran. Hier aber tritt der Spaß mit Ansprüchen auf, zu denen er nicht berechtigt ist. Alle Erfindungen der neueren Bnchdrucker- lunst müssen zusammenwirken, damit die Käufer scheinbar ein vorsündflut- liches Buch in die Hand bekommen; in unserem Falle ist die Absicht besonders gilt gelungen, aber sie ist und bleibt geschmacklos, wie jedes Mißverhältnis von Mittel und Zweck. Veit mehr Humor nnd weniger Apparat hat Wilhelm Busch viele Jahre lang uns erfreut. Die neue Mode der ausgegrabenen Bücher, welche Büschs Erfolge zu überbieten sucht, erinnert an die schlechtesten Ausstattungsstücke, in denen historiscbe Kostüme umsonst versuchen, die lustige Persvn zu ersetzen.
Henrik Ibsens Werke. Moderne Dramen. Herausgegeben voll Jnkins Hofsory. (Verlag von F. Fischer, Berlin 1890.)
Es wird von Jahr zu Jahr deutlicher, daß kein lebender Dichter der unbestimmten Sehnsucht des Publikums nach einer neuen Kunstrich tnng so gelegen gekommen ist, wie Henrik Ibsen. Er wirkt auf die Gegenwart doppelt: einmal direkt durch die unerbittliche Kraft seiner besten Dichtungen, der „Gespenster" nnd der „Wildente," dann aber noch mehr