Heft 
(1889) 13
Seite
230
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mutigen, friedlichen Gedichten, in denen sich ein friedliches, et­was spießbürgerliches Gemüt ansspricht, die eine friedliche Zeit und Gesellschaft schildern.

In der Sammlung findet sich ein Gedicht auf eine Buche, in deren Rinde er den Namen Höltys einschnitt. Mörike war damals Pfarrer in Cleversnlzbach und stand im zweinnddreißigsten Lebensjahre. Man denke sich einen heutigen Pfarrer von zweiunddreißig Jahren, der die Namen von Dichtern in Baume schneidet und dazu dem Baume sagt:Eines Dichters Namen bist du zu tragen gewürdigt."

Harmlose Zeit, welche solche zarte Seelen hervorbrachte! Das ist jetzt vorüber; der moderne Dichter lebt nicht mehr im Dorfe, er lebt in der Großstadt; er singt nicht mehr von Wiese und Feld, sondern er kämpft mit in den politischen und sozialen Kämpfen der Gegenwart und zarte Seelen sind da nicht zu gebrauchen, da haben die robusten und kräftigen Männer ihren Platz.

Und sie war doch so hübsch, diese harmlose Zeit, so hübsch!

Der Weihnachtsdichter Lehmann.

Eine Skiz z e

voll

I- M.

^^m vierten Stock, ans dem Hinterhose eines Berliner Hauses wohnte - oder wohnt vielleicht noch heute Wilhelm Lehmann, der sich alljährlich eine Woche lang den meistgelesenen Schriftsteller Deutschlands nennen durfte. Bor mehr als zehn Jahren hatte Wilhelm Lehmann, damals Student der Theologie, ans mancherlei mehr oder minder harm­losen Gründen jede wissenschaftliche Laufbahn aufgeben müssen und war mit dreinndzwanzig Jahren Journalist geworden. Er tastete sich etwa ein Jahr lang durch alle Gebiete einer Zeitung hindurch, sammelte für dieselbe zur toten Sommerszeit sogar Inserate und ließ sich durch seine theologische Vergangenheit nicht abhalten, Berichte über die Theater der äußersten Vor­stadt und der äußersten Sittenverderbnis zu schreiben. Aber es wollte und wollte ihm nicht glücken. Er selbst gab dem Neide und der Mißgunst seiner Kollegen die Schuld, während diese wieder von der Arbeitsscheu und überdies von der Denk­faulheit Lehmanns sprachen.

In Wirklichkeit war Wilhelm Lehmann durchaus nicht das ganze Jahr über arbeitsfaul, er tonnte sogar wochenlang ganz eifrig vor seinem Tisch sitzen und die Bestellungen des Verlegers oder die Privatansträge ans Hochzeits- und Festgedichte ans­führen, freilich nur, um dann plötzlich den Schauplatz seiner Thütigkeit in die Kneipe zu verlegen und nun Wochen und selbst Monate für jede, auch die kleinste Bernssthätigkeit ver­dorben zu sein.

Er wäre so am Ende vollständig zu Grunde gegangen, wenn er nicht, wie gesagt, gegen Ende des ersten Jahres eine wichtige Entdeckung gemacht Hütte. Es war im Dezember, und Lehmann, dem das bare Geld vollständig ansgegangen war, hatte wieder einmal seine fleißige Periode. Er blätterte in einem alten Jahrgang eines Pfennigmagazins und fand, daß unter allen Beitrügen die unausbleibliche Weihnachtsgeschichte nicht nur beim Lesen, sondern auch beim Schreiben die wenigste Anstrengung verursachen musste. Sofort machte er sich daran, eine ebensolche zu entwerfen. Schon am nächsten Morgen konnte er seinem Redakteur etwas Lesbares anbieten, und dieser war froh, so frühzeitig mit einer zeitgemäßen Arbeit versorgt zu sein. Da das Honorar aber nicht vor dem ersten Januar füllig war, schrieb Lehmann am nächsten Tage wieder eine Wechnachtsgeschichte, die ebenfalls ihren Abnehmer fand; und so blieb er bei dieser Beschäftigung, bis er sich rühmen durfte, i zehn verschiedene Weihnachtsgeschichten unter zehn verschiedenen j

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Dichternamen an den Mann gebracht zu haben. Dann war er so reich, daß er sein Bnmmelleben wieder anfangen konnte und einzelne sichere Honorare eine Weile nnbehoben ließ, eines sogar erst in den Frühlingstagen abholte.

Bei der Bescheidenheit seiner Lebensführung und der ge­ringen Art seines Lieblingsbieres, bei seiner Virtuosität, Schulden zu machen, die ihrer Winzigkeit wegen nicht eingefordert wurden, konnte er von seinen Weihnachtsarbeiten künftighin leben, wenn er die Fabrikation alljährlich schon im Herbste begann und die letzte Zeit ungestört dem geschäftlichen Betriebe widmen konnte. Lehmanic wies diese Gedanken nicht zurück. Er bildete sich ganz systematisch znm Weihnachtsdichter ans und konnte sich schon im dritten Jahre seiner Thütigkeit rühmen, jede Kon­kurrenz ans dem Felde geschlagen zu haben. Nur die teuer bezahlten großen Dichter verdrängten ihn mitunter ans den Spalten eines leistungsfähigen Blattes; aber Lehmann wurde darüber niemals böse. Lehmann wußte sehr gut, daß seine eigenen Schöpfungen, wenn er das volle Monopol erlangte, die ganze Gattung binnen kurzem nur alles Ansehen bringen mußten; da mochten immerhin die Dichter dafür sorgen, daß man im künftigen Jahre wieder nach Weihnachtsgeschichten verlangte.

So gewöhnte sich Lehmann mit der Zeit daran, wie ein Weingürtner vom Ertrage seines Herbstes zu leben. Im Winter, im Frühling und im Sommer that und dachte er gar nichts; kaum daß er zu den hohen Festen je fünf oder sechs Oster- nnd Pfingstgeschichten schrieb, welche jedesmal zur Anschaffung eines neuen Sommeranznges, zur Bezahlung seiner Wirtin, znm Anlegen einer großen Maibowle und zu ähnlichen Saison­allsgaben herhalten mussten. So oft aber im September seine Mittel erschöpft waren, die Pflaumen reiften und das Bier ihm schlecht bekam, ebenso oft setzte er sich mit unbezähmbarer Arbeitslust an seinen Tisch und dichtete Weihnachtsgeschichten, daß die Tinte spritzte.

Seine Denkfaulheit legte er freilich auch während dieser kritischen Wochen nicht ab. Er hatte Methode in seineBranche" gebracht und that nun seit zehn Jahren nichts anderes, als daß er jene Weihnachtsgeschichte ans dem alten Pfennig-Ma­gazin, die ihm überhaupt die Gedanken eingegeben hatte, mit kleinen Veränderungen und mit durchaus anderen Worten immer wiederholte. Er war von Jugend ans ein besserer Mathematiker als Gottesgelahrter gewesen, und so konnte er auch jetzt be­rechnen, daß er seine Vorlage nach seinem System, ohne sich zu wiederholen, immer wieder würde benutzen und die Mög­lichkeiten nicht würde erschöpfen können, auch wenn er hundert Jahre alt würde.

Seine Vorlage, von einer berühmten Schriftstellerin ver­faßt, erzählte, wie ein schmucker Offizier mit seinem reichen und adelstolzen Onkel sich überworfen hatte, weil ein bürgerliches Mädchen, die Tochter eines armen, aber ehrlichen Handwerkers, seine Frau geworden war. Der Lieutenant war gerade am Weihnachtsabend dem Ruin und dem Selbstmorde nahe, aks der Onkel erschien, verzieh und seinen Segen gab. Nun hatte Lehmann irgendwo den satirischen Einfall gelesen, daß man eine Weihnachtsgeschichte durch Versetzung der einzelnen Teile vervielfachen könne. Das war ein Scherz. Im Ernste aber ließ sich seine Vorlage durch immer neue Veränderungen der äußeren Verhältnisse vieltansendfältig nmmodeln. Was be­stehen blieb, war das Schema: Zwei Menschen sind unglück­lich, bis ein reicher Dritter sich mit ihnen am Weihnachtsabend versöhnt. Die Beziehungen der drei handelnden Personen allein konnten eine Fülle von Konstellationen bieten.

Der Mann, der bis zum Weihnachtsabend verzweifelte, konnte nicht nur ein Offizier sein, sondern auch: ein Fürst, ein Geistlicher, ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein Kaufmann, ein Lehrer, ein Ar­beiter, ein Handwerker (Bäckermeister, Schneidermeister u. s. w.j, ein Seemann, ja, selbst ein Verbrecher. Sein Genosse im Un­glück (am besten eine weibliche Person) konnte sein: eine Gattin, eine Braut, eine Geliebte, ein Kind, eine Mutter, eine sonstige treue Anverwandte, eine Haushälterin, unter Umstünden auch

Deutschland.