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Vergangenes enthüllenden Komposition zn schätzen, mich sie erreichen mit dieser seinem Kunst oft die größte Spnmumg; aber so wie Sophokles im „König Ödipus" hat nie wieder ein Dichter seine Zuhörer, trotzdem diese alle die Fabel genau kannten (zu seiner Zeit natürlich noch besser als heute) bis aufs Mark zu erschüttern verstanden. Freilich müssen wir! Voraussetzungen in Kauf nehmen, welche für uns Kinder- mürcheu sind, freilich müssen wir Orakelsprüche als untrüg- I liehe Schicksalsworte verehren lernen; und auch die rückwärts ! liegende Handlung mit all ihrer Blutschande und ihrem Vater- ! mord ist an sich viel zn kraß für unsere Nerven. Aber trotz - alledem nimmt uns die unvergleichlich geführte Bewegung der! Jntrigue, vor allem das Schicksal des trotzigen Königs (den Herr Kraußueek machtvoll spielte), ganz gefangen und erst gegen das Ende hin, wenn die Greuel in altmodischen Botenberichten hergezühlt und dann die Fäden für ein folgendes Stück geknüpft werden, erlahmt unsere unmittelbare Aufmerksamkeit. An Stelle der echten Rührung tritt das verhaltene Gähnen der Pietät.
Die Aufführung im „Berliner Theater" wäre verdienstvoller zn nennen, wenn die Chorlieder des Sophokles nicht in so dilettantischer Weise zn Wechselreden zwischen einzelnen Bürgern zerhackt worden wären. Als Schiller in der „Braut von Messina" den antiken Chorgesang durch solche Wechselreden nachznnhmen suchte, schuf er wenigstens Prachtstücke für die Deklamation. In der neuen Bearbeitung, für welche Herr Eugen Zabel verantwortlich ist, ohne daß sein geistiges Eigentum an der Übersetzung sich genau abgrenzen läßt, werden einfach immer je ein paar Verse, deren Inhalt oft dringend nach musikalischer Begleitung verlangt, von kundigen Thebanern aber schlechten Musikanten gesprochen. Es wäre eine herrliche Aufgabe, diese Chorlieder, da sie nun doch einmal unübersetzbar sind, durch richtige Volksscenen zn ersetzen; aber Shakespeare und Goethe sind dafür nicht so gleich bei der Hand wie Engen Zabel.
Der Respekt vor so alten Namen wie Äschylos und Sophokles gebietet eigentlich, nicht ohne philologische Würde von ihnen zn sprechen. Ich möchte, um das Versäumte nachzn- holen, wenigstens die eine Bemerkung nicht unterdrücken, daß die Nebeneinanderstellnng der beiden Eindrücke bei mir Zweifel daran erregt haben, ob das Verhältnis der beiden Tragiker zn einander wirklich so war, wie es die Litteratnrgeschichte auf- znfassen pflegt: als ob nämlich Äschylos der Begründer der Tragödienform und Sophokles sein nächster Fortsetzer gewesen wäre. Der Gegensatz der Stilarbeiten ist ein so ungemein großer und der Altersunterschied der beiden Dichter ist ein so geringer (Sophokles war kaum dreißig Jahre jünger als Äschylos), daß es fast scheinen möchte, als ob da zwei Richtungen fast gleichzeitig miteinander kämpften, deren glorreichste Vertreter uns eben in diesen beiden Namen erhalten worden sind.
Kteine Kritik.
Der Prozeß gegen den Herausgeber und den Redakteur eines kleine,: Revolverblättchens, welches unter dein Rainen ,,Neu-Berlin" in der deutschen Reichshauptstadt entstand und verging, ohne viel von sich reden zn machen, hat mit der Verurteilung der beiden Angeklagten ge schlossen. Jedermann ist mit dem Ergebnis einverstanden; auch solche Juristen, welche sich in formaler Beziehung ans den Standpunkt der Verteidiger stellten, wünschten den Herren Friedenstein und Landsberger für ihr unsauberes Geschäft einen tüchtigen Denkzettel. Der Begründer der? Blättchens trieb sein Handwerk nicht im großen Stil: es handelte sich nirgends um die gewaltigen Schweigegelder, von denen sich die alte (Rrnnigno ^ainlalmma erzählt, der gute Alaun wollte nur mit schmutzigen Mitteln da von einer kleinen Schauspielerin ein Abonnement, dort von einem ehrbaren East- mit Damenbediennng ein Inserat erzwingen. Trotz
der kleinlichen Erbärmlichkeit solcher Gesellen ist die schärfste Abwehr- geboten; und der jüngste Prozeß wird vielleicht die gute Folge haben, daß wenigstens für die nächste Zeit solche Erpressungs-Versuche ohne Schen vor der Öffentlichkeit sofort dein Staatsanwalt angezeigt werden dürften. Der Prozeß giebt aber noch zn einer andern Bemerkung Anlaß.
Der Vorsitzende des Gerichtshofes hat durch einige Zwischenbemerkungen verraten, daß er die Angeklagten für Typen des Journalisten standcs hält. Er scheint zwischen ihnen und den andern Vertretern der Presse nur Gradunterschiede zn sehen. Er beweist damit eine begreifliche Unkenntnis der Verhältnisse. Die ganze Untersuchung wurde gegen so dunkle Persönlichkeiten geführt, daß der Fall erst durch die breite und gewissenhafte Berichterstattung der Presse Aufsehen machen konnte. Die anständigen Journalisten hatten ordentlich ihre Freude daran, solche Be rufsgenossen einmal nach Gebühr an den Pranger gestellt zn sehen, lind wenn der eine oder der andere Geschäftsmann unter den Zeitungs leuten bei dieser allgemeinen Entrüstung nur mit schlechtem Gewissen mithalf, so ändert das nichts an der Thatsache, daß die Empörung über Friedenstein-Landsberger bei denen am größten war, deren Kollegen sich die Angeklagten leider nennen durften. Der Vorsitzende des Gerichtshofes hat aber in, Grunde nur ausgesprochen — und das soll nicht verschwiegen werden — was im Publikum eine weit verbreitete Ansicht ist, daß nämlich viele Blätter einer Beeinflussung durch Zuwendung von Inseraten zugänglich seien. Ein Teil des Publikums ist sehr wohl in der Lage, sich über diese Frage ein Urteil zn bilden, denn Tausende von Unternehmern und Pächtern, nicht nur Theaterdirektoren und Gartenwirte, sondern alle Kapitalisten, welche ihr Geld in irgend einer öffentlichen Veranstaltung angelegt haben, kommen oft mit Jnseraten-Agenten und andern Zeitungsvertretern zusammen. Unvorsichtige Revvlvcrjonr- nalisten sind freilich in diesem Verkehre selten, und auch die versteckte oder indirekte Drohung wird nur von Journalen angewandt, die in den betroffenen Kreisen ohnehin des schlechtesten Rufes genießen. Aber eine andere Beziehung zwischen dem Jnseratengeschäft und der Redaktion besteht nur zn häufig: dao vollkommene Totschweigen derjenigen Unternehmungen, die die Macht des Inhabers nicht durch Jnseratenanfträge oder sonstwie anerkannt haben. Dieser Brauch, der natürlich juristisch nicht zn verfolgen ist, aber den Aufgaben der Presse ebenso sehr wie die Er pressung widerspricht, ist recht weit verbreitet, noch weiter aber der Glaube, daß diese Sitte allgemein sei. Die Zeitungen, welche diesen Glaubei, uneigennützig und geflissentlich zu zerstören suchen, würden sich in man cher Weltstadt bequem an den Fingern eines Einarmigen herzählen lassen.
Ein Satirspiel zn den Greueln der Revolverpresse hat wieder der Kampf um das Theaterfreibillet geboten. Es ist natürlich nichts dagegen zu sagen, daß der wirkliche Schriftsteller als Gast das Hans besuche, welches ein Kollege voll ihm als Theaterdirektvr leitet, und daß der Kritiker in seinem Beruf es ans eine Einladung betritt, daß aber jede große und kleine Zeitung, wie allgemein üblich, jeden Tag und in jedem Theater einen Anspruch auf Freibillets zn haben glaubt, daß dieser An spruch von den meisten Bühnenleitern durch die That anerkannt wird, das sollte endlich als ein-geradezu lächerlicher Mißbrauch von den Ver tretnngskörpern der Presse nach Gebühr gebrandmarkt werden. Das Freibillet, welches täglich in mehr als tausend Exemplaren über die Großstadt flattert, erhöht auch bei denen, die davon Gebrauch machen, die Achtung vor der Presse nicht. Jedermann weiß, daß der Direktvr sich irgendwie bezahlt macht: die Zeitung nimmt zum Dank die kleinen offiziösen Theaternotizen auf, in denen oft die Ansicht des Kritikers mit Erfolg bekämpft wird. Dieser hat vielleicht von einem Mißerfolge an, Sonnabend gesprochen und die Notiz des Theaterbureans erzählt von einem Riesenerfolge am Sonntag. Und ob die Frau des Redakteurs, welche ihre Näherin und deren Schatz mit zwei Freibillets beglückt, von der Dichterin ihres Ballkleides nicht auch wieder bezahlt wird, sei es durch billigeren Lohn oder durch ein Paar Stunden Nachtarbeit, das mögen strengere Richter entscheiden. Friedenstein-Landsberger verfügten jedenfalls über Freibillets. t'»>.
,,Finder und Erfinder" so benennt Friedrich Spielhagen seine jüngst bei Staackmann erschienenen „Erinnerungen/' deren erste Kapitel unseren Lesern bereits aus der Veröffentlichung in diesem Blatte bekannt sind. Finder und Erfinder — der Titel ist bezeichnend für den Eharakter dieser „Erinnerungen" wie für Spielhagens Auffassung vom Poeten; „der Poet, nenne er sich einen Idealisten oder Realisten oder Naturalisten