Heft 
(1988) 45
Seite
46
Einzelbild herunterladen

Die so stark ins Auge fallende erzählerische Akribie des Mittelteils mit seiner überwiegend dänischen Szenerie könnte ein warnender Hinweis darauf sein, daß wir mit dem schon fast traditionell gewordenen Deutungsansatz in die Irre gehen. Eben dieser Mittelteil, die terra incognita des Romans, sein heimlicher Heuboden, ist der alleinige Gegenstand der folgenden Untersuchung.

Das 7. Kapitel erzählt vom Besuch der jugendlichen Asta Holk bei ihrer Freundin Elisabeth Petersen, der Enkelin des Pastors Petersen, in Holkeby. Die Mädchen treffen sich in der Studierstube des Alten, treten hinaus auf den Friedhof, überqueren ihn und gelangen auf der gegenüberliegenden Seite, nahe der Kirche, zur Gruft Estrids, des in früher Kindheit verstorbenen Bruders der jungen Komtesse. Hier machen sie einen Augenblick des Erschrek- kens durch, als sich unter Astas Berührung ein Stein der zerbröckelnden Gruft löst und mit Gepolter ins Innere fällt. Sie verlassen eilig den Kirchhof, setzen sich vor dessen Mauer auf einen Bretterstapel später wird der Hoch­zeitszug der Holks an dieser Stelle vorbeikommen (240 f) 3, erholen sich in der wohltuenden Nähe arbeitender Zimmerleute von dem eben erlebten Grauen" und beginnen ein längeres Gespräch, in welchem der Leser die Hauptsache des ganzen Kapitels vermuten wird. Aber der Leser irrt sich. Dieses 7. Kapitel ist ein für Fontane ungemein charakteristisches. Es spart die Hauptsache rundherum aus, und der düstere Hinweis auf sie bleibt ein Hinweis ins Leere. Astas Erschrecken heftet sich an ein eher harmloses, stellvertreten­des, in seiner Symbolik vorerst gar nicht deutbares Vorkommnis, auf eben jenes Herunterpoltern eines Steins, und reißt sie, als wäre es zu ihrem Schutz, aus dem Nachdenken über ganz andere Dinge, die ein folgenreicheres, tieferes Erschrecken hätten auslösen können. Von diesen Dingen erfährt der Leser des 7. Kapitels jedoch nichts.

Im 8. Kapitel holt der Erzähler das bedachtermaßen Versäumte nach, aller­dings nur in epischer Brechung und raffiniertester Verhüllung. Asta, inzwischen nach Holkenäs heimgekehrt, berichtet ihrem zu Besuch weilenden Onkel Arne dies:

Und dann hab' ich draußen auf dem Kirchhofe mit Elisabeth an dem Grab ihrer Mutter gestanden und habe bei der Gelegenheit gesehen, daß Elisabeth eigentlich Elisabeth Kruse heißt, (.. .)"

Wer sich schon hier ein Bild davon zu machen sucht, was Asta gesehen haben mag, wird wohl am ehesten an ein Kreuz oder einen Grabstein mit der Auf­schriftN. N. Kruse, geborene Petersen" denken. Asta fährt nun so fort:

(...) und daß bloß ihre Mutter eine Petersen war, und daß wir sie eigentlich gar nicht Elisabeth Petersen nennen dürfen. Aber, so sagte sie mir, sie habe ihren Vater gar nicht mehr gekannt, und die Mutter, wenn man im Dorf von ihr gesprochen hätte, sei für die Leute nur immer des alten Petersen Tochter gewesen, und so heiße sie denn auch Elisabeth Petersen und sei eigentlich recht gut so" (60)4 .

Das freilich fügt sich nicht in jenes Bild, das wir uns soeben entworfen haben. Will Asta ihrem Onkel ernstlich auseinandersetzen, daß Petersens Tochter einst eine Petersen war? Das dürfte jeder auf Holkenäs gewußt haben. Neu, über­raschend, allein mitteilenswert kann ihr wenn überhaupt etwas nur jener Name erschienen sein, den Petersens Tochter bei der Hochzeit erhielt, Kruse. Den freilich legt Asta nur Elisabeth bei, während sie ihn der Toten, scheint es.

46