INTERPRETATIONEN
Wolfram Seibt
Kruses Grab
Die versteckten Nicht-Ehen in Theodor Fontanes Gesellschaftsroman „Unwiederbringlich"
I
Interpretationen können nicht besser sein als das Textverständnis, auf das sie sich stützen, und die diskrete Verlegenheit, die man bisherigen Interpretationen von „Unwiederbringlich" zumeist anmerkt, hätte längst irgendwen auf die Frage bringen sollen, ob es nicht in unser aller Textverständnis noch Lücken gebe, vor deren Schließung auf eine befriedigende Gesamtdeutung nicht zu hoffen ist. Damit sei angezeigt, was der folgende Aufsatz beabsichtigt. Er möchte weniger selbst eine Interpretation sein als künftigen Interpretationen die Wege bahnen, indem er das Repertorium der Erzählungsgegenstände um ein paar bisher unentdeckt gebliebene Objekte ergänzt, ohne sich auf ihre Deutung allzu ehrgeizig einzulassen. Manche Interpreten von Rang machen aus ihrer Verlegenheit sympathischerweise keinerlei Hehl, doch sie zweifeln dann oft lieber an Fontanes Virtuosität als an der Suffizienz der eigenen Texterfassung, vergleichbar jenen Spielkameraden des Knaben Theodor F„ die, nachdem sie ihn im Heubodenversteck nicht hatten finden können, das Spiel abbrachen und in der Küche unter Verwünschungen gegen ihn ihr Vesperbrot verzehrten. „So rechtfertigt das Ende des Buches die Vorauskündigung des Titels, aber gleichzeitig muß die Kritik auch hier einsetzen, denn das Buch entspricht ja nicht den Erwartungen, die der Titel und der Anfang wecken. Die Gräfin spielt nur in den ersten Kapiteln und gegen Ende eine bedeutsame Rolle. Ebba Rosenberg und der ganze Kopenhagener und Hilleroder Kreis rücken in den Vordergrund, während Christine eigentlich nur das schlechte Gewissen Holks ist, bis wir plötzlich erfahren, daß sie an der zunehmenden Entfremdung krank geworden ist. Die Schilderung des fremden Milieus, der politischen und gesellschaftlichen Lage nimmt viel mehr Seiten in Anspruch als die Schilderung der Gräfin und der Konflikte auf Holkenäs. Daß Fontane die Schilderung der Katastrophe ausspart und Julie von Dobschütz darüber in einem Brief an Schwarzkoppen berichten läßt, entspricht zwar seinen schriftstellerischen Gepflogenheiten, aber auch wenn der Roman „Helmut Holk" geheißen hätte, kann die Gewichts Verteilung nicht als gelungen betrachtet werden, denn auch von seinen Gedanken und Gefühlen in der letzten Periode, nach der Versöhnung, erfahren wir wenig. Der Leser muß das Entscheidende erraten, während alle Phasen der verhängnisvollen Entwicklung in Kopenhagen mitsamt Plaudereien und Anekdoten ausführlich dargestellt werden" 1 .
Was aber berechtigt uns denn, „das Entscheidende" stets nur auf Holkenäs zu suchen? Oder der Gräfin Holk gar eine „Mittelpunktstellung" beizumessen ? 2
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