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weniger Stürmer als Strategen gewesen nnd hoffen die Feste durch weise Berechnungen zu gewinnen. Der kühne Handstreich, der nicht nur die alte Garnison niederwirft, sondern auch das Volk unter die neue Herrschaft zwingt, ist noch nicht gelungen. Doch ich denke, das Bild ist müde; lassen wir es ruhen.
Einer der hitzigsten Dramatiker aus der neuen cynischen Schule ist der Schwede Strindberg. Er ist so modern, so durch und durch „Decadence," daß er an Feinheit der Einzelbeobachtung selbst Ibsen und Zola hinter sich läßt. Wenn er die Natur belauscht, hört er das Gras wachsen, nnd wenn er die Triebfedern menschlicher oder unmenschlicher Handlungen erforscht, möchte inan mitunter glauben, daß die Ströme der fremden Gehirnmassen Telephonleitungen zu seinen Nerven haben. Diese Eigenschaften haben ihm in seiner Heimat schnell eine Gemeinde geschaffen, und auch unter uns hat er bereits Bewunderer, welche in ihm wieder einmal den Messias des Dramas erblicken. Sein „naturalistisches Trauerspiel Fräulein Julie" wird darum in den nächsten Wochen in allen knnstfrenndlichen Kreisen lebhaft besprochen werden, nnd auch wir wollen uns damit beschäftigen, weil es ja doch fürs erste von den gebundenen Bühnen ebenso gut wie von den ungebundenen fern bleiben dürfte? Wäre die „Freie Bühne," was den Begründern wohl als Ideal vorschwebte, wirklich ein Verein von lauter wißbegierigen Kunstfreunden, welche mit einem gewissen Forschersinn die Wirkung kühner Versuche an sich anstellen wollen, dann wäre ohne Frage mit „Fräulein Julie" ein Experiment zu wagen gewesen. Ich glaube freilich, dieses würde selbst vor einem Publikum von Parteigängern mißglücken.
Was „Fräulein Julie" für eine Zuhörerschaft der gewöhnlichen Mischung unmöglich macht, das ist allerdings nur der Stoff. „Fräulein Julie" ist ein hysterisches Grafentöchterlein, welches sich mit dem Bedienten ihres Vaters vergißt. Nach dein Falle sieht sie keine andere Rettung, als sich mit einem Rasiermesser den Hals dnrchzuschneiden. Dieser Vorgang, der in erfreulichem Gegensätze zu der unendlichen Znstandsmelodie der jüngsten deutschen Naturalisten wenigstens ein wirklicher Vorgang ist, wird in theater-technischer Beziehung vortrefflich dargestellt. Das Stück, welches sich eigentlich in drei Akte gliedert, aber ohne Zwischenvorhang in einem Zuge heruntergespielt werden soll, hat nicht mehr Personen als ein französisches Proverbe. Außer Fräulein Julie und dem Bedienten spielt nur noch eine Köchin mit. Der Schauplatz ist die Küche des gräflichen Schlosses. In diesem Raume vollzieht sich ohne allzu gewaltsamen Zwang die ganze Geschichte. Die Charaktere sind freilich gar sehr konstruiert, nnd nicht jedermann wird dem Verfasser zugestehen, daß diese Figuren leben; glaubt man aber daran, oder geht man auch nur auf die Fiktion ein, so entwickeln sich die einzelnen Momente ganz folgerichtig, und die feinsten Züge in der Zeichnung, namentlich des Bedienten, halten das Interesse des Lesers wach. Noch mehr konstruiert als die Gestalten ist ihre Sprache. Und hier passiert Strindberg etwas Menschliches. Der Bediente soll nach seiner Absicht allerlei gebildete Phrasen ausgeschnappt haben, damit die Verirrung der jungen Komtesse (in Deutschland heißt eine Grafentochter nirgends „Fräulein" Julie) begreiflicher würde. Das teilt uns Jean nicht nur immer aufs neue mit, sondern er füllt mitunter so sehr aus der Rolle, daß er geradezu selbständig geistreich wird. Das thnt ein konsequenter Naturalist mit seinen Gestalten nicht. Trotzdem ist Jean in seiner Roheit und Feigheit vorzüglich getroffen nnd wird uns ganz gewiß als Nebenfigur bei nachnhmenden Dichtern oft wieder begegnen. Freilich widerspricht er ein wenig den Theorieen, welche Strindberg in einem Vorworte entwickelt hat. Es heißt da: „Ich glaube nicht an einfache Theatercharaktere. Und gegen das summarische Urteil der Verfasser über die Menschen: der ist dumm, der ist brutal, der ist eifersüchtig, der ist geizig u. s. w. sollte von den Naturalisten Einspruch erhoben werden, welche wissen,
* Fräulein Julie. Naturalistisches Trauerspiel von A. Strindberg. Aus dem Schwedischen vou E. Brausewetter. (Leipzig, Philipp Reelam jun.)
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wie reich der Seelenkomplex ist, und welche verstehen, daß das Laster eine Rückseite hat, welche sehr stark der Tugend ähnelt." Was an diesen Bemerkungen wahr ist, das ist fester Besitz unserer höhern Dramatik seit Otto Ludwig; nnd ganz falsch ist die Lehre von den einfachen Theatercharakteren doch auch wieder nicht. Jean z. B. ist ein feiger Schuft, ganz einfach; nnd da Schufte gewöhnlich auch feige sind, so wird die Formel für ihn noch bündiger. Gewiß muß die Bühne von der alten Charakteristik des Typus zu der des Individuums fortschreiten; aber auch das Individuum wird für das Drama immer nur dann fruchtbar sein, wenn es verhältnismäßig einfach in feinen Motiven ist. Rembrandt, der uns neuerdings als Erzieher angepriesen wird, kann uns wenigstens das eine lehren, wie die Individualität eines Menschen auch bei ganz einseitiger Beleuchtung sichtbar werden kann.
Der Bediente Jean ist ein solches sehenswertes Individuum. Die Hauptfigur des Stückes aber, mit deren Glaubhaftigkeit alles steht nnd füllt, die Komteß Julie, ist mir als Individualität nicht interessant, nnd wenn sie auch zehnmal in Wirklichkeit leben sollte, lind was auch immer Strindberg in seinem Vorworte behaupten mag: wie symbolisch seine Heldin sei, und wie schlau er die ganze Geschichte motiviert habe: Komteß Julie ist und bleibt eine Ausnahme lind ist mir darum uninteressant, wie jede Ausnahme, wie jede Kuriosität. Die Kunst suche ich weder bei den Absonderlichkeiten von Castans Panoptikum, noch auch bei den idealen Forderungen des anderen Kastan, sondern bei der realistischen Wiedergabe des typischen Menschen, der aber freilich der künstlerischen Wiedergabe durch seinen geistigen Reichtum wert sein muß.
Scheint mir nun „Fräulein Julie" deshalb mißlungen, weil es eiue Kuriosität ist, so süudigt der Dichter ganz gewiß noch viel schlimmer als Ibsen in der Anspielung auf wissenschaftliche Errungenschaften der letzten Zeit. Es mag dahingestellt bleiben, ob Vererbung und Suggestion wirklich so unbestrittene Thatsachen sind, wie die Halbbildung es auf Treu nnd Glauben hinnimmt, jedenfalls haben diese Erscheinungen, wie immer man sie erklären mag, schon ewige Zeiten vor ihrer Entdeckung im Menschenleben ihre Rolle gespielt. In Shakespeare, der alles weiß, findet sich auch Vererbung und Suggestion. Nun mögen unsere dichtenden Zeitgenossen immerhin ans physiologischen Büchern lernen, was Shakespeare mit Augen sah, mögen sie immerhin Fälle von Vererbung und Suggestion auf der Bühne häufen, es wird einst eine litterarische Mode gewesen sein wie andere; aber reden sollen sie um Gottes willen nicht unaufhörlich von ihrer neuen Schulweisheit. Sie ist noch unverdaut; und selbst zweifellose wissenschaftliche Wahrheiten sind für die Kunst nicht so rasch zu verwerten. Seit einigen hundert Jahren weiß man, daß die Sonne nicht aufgeht, daß es vielmehr die Erde ist, die sich dreht. Nnd doch hat der größte Künstler, der Geist der Sprache, bis heute keinen Ersatz geschaffen für den alten schönen Schein: „Die Sonne geht auf."
Mit alledem möchte ich nur der drohenden Überschätzung Strindbergs entgegentreten. Übrigens steckt in seinem Stücke mehr Geist, mehr Kunst nnd mehr Gegenwart, als in sümt liehen Dramen, welche von der alten Garnison der Festung seit dreißig Jahren geschrieben und verteidigt worden sind.
Kckeine Kritik.
An seinem letzten Novitätenabend am vorigen Sonnabend brachte das Berliner Theater drei Einakter, die gewählt waren, um Hedwig Niemann Gelegenheit zn drei köstlichen Leistungen zu geben, und zu fällig das eine gemeinsam haben, daß sie alle das Ehestandsthema variieren. In dem alten Seribescheu „Weg durchs Fenster" geschieht dies in bekannter äußerlicher Manier, aber mit anmutigem Bnhnen- geschiek. Anspruchsvoller tritt das einaktige Schauspiel «T toinpo- auf,
Deutschland.