Seite 526.
Deutschland.
31.
wird gewöhnlich nicht rein Physisch, sondern als durch irgend eine Schuld erworben dargestellt und damit dem geistigen Zusammenhänge genähert. Über den ästhetischen Wert dieser an sich krankhaften Richtung wollen wir hier nicht abnrteilen. Aber man muß doch wohl zugeben, daß an sich verschuldetes Siechtum als tragische Sühne für tragische Schuld dichterisch verwendbar sein kann. Freilich würde dies die ererbte Krankheit, da sie ja nicht verschuldet und daher dem psychischen Zusammenhänge fremd ist, wiederum von dem Gebiete der Dichtkunst ausschließen. Und Ibsens „Gespenster" sind nur dann als Drama zu halten, wenn man den Schwerpunkt in die Seele der Mutter verlegt und damit einen gewissen Zusammenhang zwischen der Schuld des Vaters und dem tragischen Schicksal des Sohnes in ihrer Beziehung zu der sich in ihrem Innern abspielenden Tragödie herstellt. Es kann ja nicht geleugnet werden, daß derartige in das Leben tief eingreifende Erscheinungen, wie die Vererbung von Krankheiten, auch in künstlerischen Darstellungen des Lebens eine große und sogar bestimmende Rolle spielen können. So ist auch ein Konflikt, wie er in Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" dargestellt ist, zwischen der Liebe und der Überzeugung, durch die Ehe ein Geschlecht verdorbener Nachkommen in die Welt zu setzen, im Leben ebenso denkbar, wie in der Kunst dramatisch verwertbar. Unseren! künstlerischen Standpunkte aber würde es mehr entsprechen, wenn ein solcher Konflikt in der Seele des Helden selbst seinen Austrag fände, und dieser nicht wie der liebenswürdige Doktrinär Loth lächelnd über das zertrümmerte Glück seiner Geliebten mit seinen geretteten Prinzipien das Weite suchte.
Das Reich der rein mechanischen Naturkausalitüt ist also kein Stoffgebiet für künstlerische Behandlung. Eine Kunst, die ihr Höchstes darin suchte, mit der Gehirn- und Nervenphysio- logie Schritt zu halten, würde schließlich nach unendlichem Fortschritte der Wissenschaften, falls erst einmal die physischen Begleiterscheinungen intellektueller Äußerungen festgestellt sind, darin gipfeln, das Drama durch die Nebelbildvorstellungen bewegter Gehirne zu ersetzen, in der Art, wie man jetzt in wissenschaftlichen Theatern astronomische Vorgänge darstellt.
Hiermit sind wir nun so weit, um festzustellen, daß die Dichtkunst auch nach der radikalsten Auffassung den Menschen nur als geistiges Wesen zum Borwurf nehmen kann, und daß die vermeintliche Einwirkung des Physischen auf das Psychische außerhalb ihres eigensten Gebietes liegt. Nun ist freilich der Mensch auch als geistiges Wesen frei weder für sie noch für die wissenschaftliche Psychologie; und doch wird richtig verstanden die Erkenntnis dieser Willensnnfreiheit für die Kunst weder ein Hemmnis noch einen Fortschritt bedeuten.
Das Wesen der erzählenden und der dramatischen Kunst erfordert ein Geschehen, und da, wie wir sahen, das Naturgeschehen als solches außerhalb ihres Gebietes liegt, so fordert es ein Geschehen in Bezug auf Menschen, d. h. ein Handeln. Das Handeln des Menschen aber ist unfrei, auch insoweit es bewußt ist, da es durch das Übergewicht der stärksten Motive mit Notwendigkeit bestimmt wird. Dichterisch darstellbar ist nur ein Handeln, welches unter dem Gesetze des geistigen ununterbrochenen Zusammenhanges zu stände kommt. Dieser geistige Zusammenhang steht wiederum unter dem Gesetze der Willensunfreiheit. Aber das Bewußtsein dieser Unfreiheit ändert in unserer Anschauungsweise bezüglich des Lebens oder der Kunst auch nicht das geringste; denn wir wollen ja hier wie dort nichts anderes sehen, als bewußt und konsequent nach Motiven handelnde Menschen, in denen Motiv, Überlegung und Handlung als eine notwendige Kette intellektueller Vorgänge verlaufen. Eine andere Freiheit ist im Gebiete der Erfahrung logisch undenkbar. Und gerade in der Kunst war diese Erkenntnis zu allen Zeiten leitendes Prinzip, da ihr die Entwickelung einheitlicher Charaktere und des inneren Zusammenhanges der sich hieraus ergebenden Handlungen stets als oberstes Gesetz galt. Hierin gipfelt auch das moderne Kunstprinzip, welches kritisch betrachtet auf die altbewährte Forderung
nach konsequenter Motivierung der Charaktere zusammenschrumpft.
Nun gewährt aber ferner auch das Gebiet der bewußten Handlungen dem Dichter nicht in seiner ganzen Ausdehnung gleich dankbare Ausbeute. Denn prüfen wir die Quellen, aus denen Motive fließen, so finden wir zwei große Ströme, deren Wechselwirkung das ganze Gebiet bewußter menschlicher Thätig- keit erfüllt: Anlage und Umgebung. Die Umgebung wirkt als Erziehung durch Eltern, Erzieher und Erfahrung, als soziales Mittel, als Sporn und Schranke menschlichen Strebens. Ihr bringt der Mensch als Objekt und Subjekt der Wechselwirkung seine Individualität entgegen. Und diese bietet dem Analytiker wiederum zwei Seiten: eine ererbte und eine originelle. Die Vererbung charakteristischer Eigenschaften von Eltern auf Kinder ist eine Thatsache der täglichen Erfahrung; ebenso aber auch die individuelle Variation, welche jedes neugeborene Wesen in sich verkörpert.
Nun hat von jeher die große Kunst ihre Aufgabe darin erblickt, mächtige Individualitäten im Kampfe mit mächtigen Verhältnissen zu schildern. Erst in neuerer Zeit beginnt theoretisch und praktisch sich die Meinung zu bethütigen, nicht die Schilderung des Individuums, sondern die Darstellung der erblichen und sozialen Abhängigkeit des Menschen, sowie der sozialen Verhältnisse ohne eigentlichen Mittelpunkt sei das Ziel der Kunst. Insbesondere bewegt sich die französische und russische Romanlitteratur iu dieser Richtung, welche ihren geistvollsten Ansdruck in der Zola scheu Studie: Io i-onmn exqwrilneu- tul gefunden hat. (Schluß folgt.)
„IräuLein JuLie."
Non
L M.
Musik der Zukunft, vor dreißig Jahren noch ein Streitgegenstand für die Fachleute, ist heute Herr- schend, übrigens verdrießlich herrschend, wie ein König ohne Erben. Das Drama der Zukunft aber, welches in Deutschland wenigstens gleichzeitig mit Richard Wagners ersten Versuchen und im geistigen Zusammenhänge mit ihnen angestrebt wurde, das Drama der Zukunft ist immer noch nicht erobert. Wenn mir der Naturalismus ein mittelalterliches Bild zu gute halten will, so möchte ich das Theater, und nicht nur das deutsche, mit einer Festung vergleichen, die vorläufig noch im Besitz der alten Garnison ist, aber in absehbarer Zeit von den jungen Gegnern genommen werden wird. Wir wollen herzlich jubeln, wenn der unbekannte Dichter der Zukunft die Mauer erstiegen und seine Fahne ans die Zinne aufgepflanzt haben wird; denn wir sehnen uns nach einem großen dramatischen Dichter. Aber das darf uns nicht über die Thatsache täuschen, daß die Zinne noch nicht erstiegen ist. Auf der Mauer stehen die Verteidiger des alten: tüchtige alte Krieger und Soldknechte, Kaufleute und Direktoren, Männer und Weiber, und überschütten jeden Angreifer je nach ihrer Waffe mit siedendem Öl und geschmolzenem Silber, mit gezimmerten Balken, mit Steinen und Unrat. Das stört die kampflustigen Eroberer nicht, in deren Reihen es noch nicht viele Söldner giebt. Der Lohn ist zu gering. Die junge Mannschaft also schreitet tapfer zum Sturm, legt Leitern an, wirft den Schild von sich und klimmt mit Todesverachtung empor. Da giebt es nun begeisterte Zuschauer, welche von der guten Sache überzeugt, jedesmal „Victoria" rufen, sobald ein Genosse die ersten Sprossen überschritten und die ersten Wurfgeschosse der Verteidiger von sich abgeschüttelt hat. Wie glücklich wären wir, wenn das Victoria-Schreien auch jedesmal einen Sieg bedeutet hätte. Statt eines großen Dramatikers Hütten wir deren schon ein Dutzend, und für das zwanzigste Jahrhundert wäre ansgesorgt. Aber in Wirklichkeit stürzt einer nach dem andern von der Leiter wieder herunter, und die besten Männer, wie Ibsen, sind