Heft 
(1889) 31
Seite
525
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ist!" Sie konnte sich nicht trennen, unaufhörlich küßte sie das Kind und schluchzte. Endlich riß sie sich los.Es muß sein. Bei Russandra bin ich sicher, sie wird mich nicht wieder znrückkehren lassen."

Sie ordnete ihr Haar und band ein Kopftuch um. Da lag er noch immer auf den Knieen, mit dem Kopf ans dem Bette und schnarchte.

Sie beugte sich hinab, und ihren Widerwillen überwin­dend, küßte sie ihn. Der Kuß galt den tausend Hoffnungen, die er einst erweckt, den tausend Lebenskeimen, die er zerstört.

Dann schritt sie hinaus. Silberflockig lag der Mond auf Häusern und Wegen. Sie hörte in der Stille nur das Klappern ihrer Pantoffeln auf den nächtlichen Straßen. An der Schenke traf sie noch der langgezogene Klageschrei der Zigeuner dann war sie verschwunden, um nimmer wieder­zukehren.

Zur natumiffensihaftliche« Weltanschaiiiin- in der »euefteu Fitterutur.

Vvn

vn. Richard Loewy.

ritische Betrachtungen über geistige Strömungen unserer Zeit können zumeist in dem Gemeinplätze gipfeln, daß wir in einer Übergangsperiode leben. Denn thatsächlich zeigt unser gegenwärtiges Zeitalter fast auf allen geistigen Gebieten den Kampf noch unvermittelter Gegensätze, das Streben nach der Aufrichtung neuer und der Beseitigung der überlebten alten Ideale. Sämtliche Symptome unserer intellektuellen Bewegung deuten offenbar auf eineu Fortschritt hin: aber wir dürfen uns nicht verhehlen, daß wir uns auf vielen Gebieten in einer Flutwelle befinden, welche weit über ihr Ziel hinansschießt, und daß der Rnhepnnkt des nächsten Fort­schrittes nicht da liegt, wo ihn die Vorkämpfer moderner An­schauungen gern finden möchten.

Es bezieht sich dies nicht zum geringsten Teil auf gewisse Bestrebungen in unserer Litteratur, welche besonders in aller- neuester Zeit im Vordergründe des Interesses stehen. Ich meine hiermit nicht allein die sog. naturalistische Strömung, sondern überhaupt die ganze Richtung derer, welche der naturwissen­schaftlichen Weltanschauung ihren Tribut zollen und von dem Bestreben ausgehen, die Methoden und Ergebnisse derselben ans das Gebiet poetischer Produktion zu verpflanzen.

Da gottlob unsere Dichter in ihrem Streben nach Natur noch uicht beim Tierreich augelangt sind und Affentheater noch nicht salonfähig gemacht haben, so bleibt zur Zeit noch die Darstellung des Menschen das hervorragendste Problem selbst unserer jüngsten und radikalsten Poeten. Der Mensch aber soll auch in der Kunst rein in seiner naturwissenschaftlich ap­probierten Erscheinung zur Darstellung kommen, und da wie mit großer Naivität au der Spitze vieler ästhetischer Be­trachtungen nusposaunt wird die moderne Wissenschaft die Unmöglichkeit einer Willensfreiheit dargethan hat, so soll er auch in der Dichtkunst des Scheines der Freiheit entbehren und unter dem Banne einer völligen Abhängigkeit geschildert wer­den. Die beiden Schlagwörter aber, in denen das Kunst- Prinzip unserer Zeit enthalten sein soll, sind: Vererbung und Umgebung.

In der Erscheinungswelt, deren Darstellung die Kunst an­strebt, ist nun freilich die Möglichkeit einer Willensfreiheit un­denkbar. Das ist heutzutage eine so allgemein erkannte axio- matische Wahrheit, daß sie auch ohne die Reklame junger Dra­matiker und Romanciers wohl ihren Platz behaupten wird. Sehen wir das Universum von dem Standpunkte der mecha­

nischen Weltanschauung als bewegte Masse, so herrscht blind das Gesetz der mechanischen Kausalität. Betrachten wir das Gebiet rein geistiger Erscheinungen, so gehen wir aus von dem Prinzip der durchgängigen Motivierung. Eine Freiheit des Willens kann es auf keinem der beiden Gebiete geben. Denn dort ist der Gehirnvorgang, welcher zur Auslösung zweckmäßiger Muskelbewegungen führt, sowohl als Wirkung rein mechanisch bedingt, wie als Ursache rein mechanisch bedingend. Und hier ist zwar eine bewußte Vorstellung das Motiv der Handlung; aber diese Vorstellung steht in der zusammenhängenden Reihe notwendiger geistiger Erscheinungen, und handelt es sich bei Vornahme einer Handlung um die Wahl zwischen verschiedenen Motiven, so trägt mit logischer Notwendigkeit dasjenige den Sieg davon, welches in diesem Zusammenhänge das stärkste ist. Ein > i> XN'UNI M'lüti'üm, iuckillereutiue in dem Sinne einer von dem Übergewichte der Motive unabhängigen freien Wahl ist hier ebenso undenkbar, wie dort ein außerhalb der natür­lichen Kausalität stehender Vorgang.

Wie sich die geistige und die stoffliche Welt zu einander verhalten, in welchem Prinzip sie beide ihre höhere Einheit finden, das zu erkennen, war und ist zu allen Zeiten das höchste Problem der Philosophie gewesen. Die Erkenntnis, daß gei­stige Vorgänge als solche ans mechanischen Ursachen logisch nicht erklärbar sind, daß wir uns begnügen müssen, wenn wir nach unendlichem Fortschritt der Wissenschaften vielleicht einmal einen durchgängigen Parallelismus beider, aber nie mehr, em­pirisch werden Nachweisen können, diese Erkenntnis bricht sich erfreulicherweise nicht nur in der Philosophie, sondern auch bei einsichtsvolleren Naturforschern mehr und mehr Bahn. Der junge Dramatiker aber wird über diese reaktionäre Beschränkt­heit den Kopf schütteln, denn für ihn besteht ja gerade der Fortschritt unserer Wissenschaft und Kunst in dem Nachweis der Einwirkung des Physischen auf das Psychische.

Aber auch er wird zngcben können, daß man rein em­pirisch die mechanische und die geistige Welt trennen kann, und er wird zugeben müssen, daß nur diese der Gegenstand künst­lerischer Darstellung ist und sein kann. Das menschliche Leben in seinem geistigen Zusammenhänge, die Darstellung bewußter und denkender Subjekte, also Menschen von ihrer geistigen Seite aufgefaßt, stehen auch bei ihm noch im Vordergründe des In­teresses.

Sehen wir nun handelnde und denkende Menschen im Leben oder auf der Bühne vor uns, so sind wir von vorn­herein überzeugt, daß ihrer geistigen Natur eine den rein me­chanischen Bedingungen unterworfene physische entspricht. Un­sere Wissenschaft ist ferner in dem Nachweise des Zusammen­hanges mechanischer Vorgänge viel weiter, als in dem gleichen Nachweis auf psychischem Gebiete. Und wir müssen als mög­lich zugeben, daß rein physische, außerhalb des organischen Zu­sammenhanges stehende äußere Einflüsse ans diejenigen körper­lichen Funktionen, au welche sich geistige Erscheinungen knüpfen, bestimmend einwirken können. Verstimmungen des Magens, Einflüsse der Temperatur, Schnupfen oder Influenza mögen in ihrer indirekten Wirkung auf den Geist lind das Handeln oft mehr Bedeutung gehabt haben, als wohlüberlegte Entschlüsse. Aber von der geistigen Seite aus betrachtet fallen sie aus dem notwendigen Zusammenhänge heraus, da sie die Kette bewußter Vorgänge unterbrechen. Insoweit sind sie als bloße Zufälle zu betrachten, und Zufälle sind keine rein künstlerischen Motive. Deshalb hat auch noch kein ernster Dichter den Versuch gemacht, derartiges poetisch zu verwerten.

In diesem Sinne steht auch die Erblichkeit, von ihrer rein physischen Seite aufgefaßt, unzweifelhaft außerhalb der Kunst. Dazu gehören vor allem die mechanischen Vorgänge der Zeu­gung und Vererbung selbst, deren exakte Erklärung bisher noch ziemlich im argen liegt; nicht minder aber ihre rein körper­lichen Begleiterscheinungen, wie Ähnlichkeit, erbliche Mißbildung und Krankheiten.

Die erbliche Krankheit nimmt nun freilich gerade in der modernsten Litteratur einen großen Raum ein. Aber auch sie