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gefragt. Alles, was sie in kindlicher Überschwenglichkeit dem Tier geschenkt hatte, Halsbänder, Kissen, Decken, trng sie in einem Winkel ihres Zimmerchens zusammen und hütete es dort wie ein Heiligtum. Stundenlang konnte sie bei den Sachen sitzen und finster in sich hineinbrüten.
Keine Strafe, keine Zurücksetzung machte von dem Augenblick an, in dem man ihre warmherzige, wenn auch unbedachte That so herzlos mißkannt hatte, den geringsten Eindruck auf Gila.
All die Zuneigung aber, die ihr einsames Herz für den toten Liebling gehabt, übertrug sie nun ans das Brüderchen. In einer scheuen, sonderbaren Art freilich, da man den Knaben vor dem „Teufelchen" hütete, wie vor etwas Entsetzlichem — aber die Stunde, zu der Gila der Mutter „Guten Morgen" wünschen durfte, war doch jetzt die Wonne ihres Tages; denn Gilo, der reizende, kleine Gilo, der Abgott des Hauses, vor dessen Lächeln das Sonnenlicht zu erbleichen schien, lag dann lustig krähend ans dem Schoße der Gräfin.
Ohne sich zu rühren, die Hände auf dem Rücken, stand das „Tenselchen" dann vor dem kleinen Bruder und schaute bewundernd ans die zarten, runden Gliederchen, die aus rosig gefärbtem Wachs gebosselt schienen, auf die feinen Härchen, die ebenso goldig glänzend waren, wie die Flechten der glücklichen, jungen Mutter.
Mit Staunen sah Gila die Zärtlichkeit, die dem Brüderchen wurde; aber mit der ganzen Wildheit ihrer Natur wehrte sie sich gegen jede Anwandlung von barmherziger Freundlichkeit, die verspätet ans dem Wesen der Eltern hervorbrach und sich in Liebkosungen gegen die so lange znrückgesetzte Tochter äußern wollte.
„Sie ist und bleibt doch „unser Tenselchen," meinte dann wohl aufseufzend Gräfin Ilona.
Als der kleine Gilo ans den Füßchen stehen und gehen lernte, da näherte sich ihm die Schwester mehr und mehr. Mit wachsamem Blick ihrer melancholischen Augen hütete sie die geliebte kleine Gestalt, mit Entzücken spielte sie mit dein fröhlichen, goldlockigen Bürschchen.
Aber sie mußte ihre Liebe, ihre Freude ängstlich verbergen, denn die Gräfin wachte mit eifersüchtiger Zärtlichkeit über dem Kleinen und trennte sich nur von ihm, um den notwendigsten geselligen Verpflichtungen zu genügen.
Als Gilo älter wurde, da zeigte es sich, daß auch in seiner Natur der Keim lag zu jener Abenteuerlichkeit, die im Wesen des „Teufelchens" so seltsame Sprossen getrieben hatte.
Er wurde ein wilder Junge von ungebündigtem Temperament. Mehr und mehr traten ein starrer Egoismus, ein durch nichts zu brechender Wille an ihm hervor. Die unbegrenzte Verhätschelung, die dem Kleinen wurde, verstärkte diese Eigenschaften noch. All das Unliebenswürdige, ja Schreckende, das dem „Teuselchen" von jedem zugetraut wurde, aber keineswegs Eharaktereigentümlichkeit, sondern nur die Folge einer harten, gänzlich verkehrten Erziehung war, und in Wirklichkeit nur gleich einer dunklen Hülle um einen goldigen Kern lag — alles dies war bei dem kleinen Knaben angeboren und durch Verwöhnung fortentwickelt worden. Böse und falsch war er im Innern, nach außen blieb er blond und weich und schön — bestechend schön.
Die Dienerschaft neckte er boshaft, die Eltern quälte er
unaufhörlich — vor allem aber hatte er im „Teufelchen" ein Wesen gefunden, an dem er seinen Übermut, seine Launen ausüben konnte. Er schlug und kratzte die Schwester oft ganz ohne Ursache, und sie ließ sich mit einer bei ihr gar nicht zu vermutenden Geduld die heimliche Bosheit gefallen, denn sie liebte das ungezogene Brüderchen abgöttisch.
All ihre phantastischen Märchengedanken wachten ans, wenn der kleine Gilo in heißer Mittagsstunde vor ihr im Rasen lag, die Halme über sein strahlendes Gesichtchen hinnickten, die Käfer ihn umsummten und er mit den spiegelnden blauer: Augen so lange zu dem glänzenden Himmel aufschaute, bis sie ihm zu sielen.
Wie ein kleiner Prinz erschien ihr der Bruder, so fein und schön. Sie erwartete für ihn ganz wunderbare Dinge, wie Erscheinungen von Feen oder verzauberten Prinzessinnen, deren Erlösung ihm zu unermeßlichem Glück verhelfen mußre.
Sie selber hoffte dann bei diesen Ereignissen eine Rolle spielen zu können, sie dachte an unschätzbare Dienste in schwerer Gefahr, die sie dem Bruder leisten würde. Und ganz im Hintergründe ihrer Gedanken tauchte eine leise, leise Hoffnung ans, daß auch sie dann zu Lohn und Dank Erlösung finden könnte aus ihrer Bedrücktheit, aus ihrem Verkanntseiu. Sie würde froh uud glücklich sein dürfen und vielleicht o Wonne geehrt und geliebt stehen auf den Stufen des perlengeschmückten Thrones, den ihr geliebter Bruder dann teilen würde mit einer schönen, lächelnden, erlösten Prinzessin in goldstrahlenden Gewändern. — — —
So spielten die Gedanken des kleinen phantastischen Mädchens wunderlich durcheinander und spannen sich fester und fester um eine traumhafte Zukunft voll wunderbarer Ereignisse und ungeahnter Zufälle. — — —
Es war in schwüler Sommermittagsstnnde. Das gräfliche Paar war schon mit Tagesanbruch ans eins der benachbarten Güter gefahren, um dort ein ländliches Fest zu feiern, das in den frühen Morgenstunden seinen Anfang nehmen sollte.
Die Erzieherin befand sich im Anstrage der Gräfin in der nächsten Stadt und Gila und Gilo waren der Obhut der alten Mascha anvertraut.
Vereinsamt lag das Schloß. Fast die gesamte Dienerschaft befand sich draußen ans den Feldern, um das Getreide einbringen zu helfen. Nach trockenen, sonnenheißen Tagen stand hent' fern im Westen eine schwarze, drohende Wolkenwand. Die Hitze war fast unerträglich. Die glühende, durchstrahlte Luft flimmerte und schien elektrisch ungefüllt. Kein Blatt regte sich an den Bäumen, wie traumbefangen saßen die Vöglein auf den Ästen.
Das Häuschen der alten Mascha, das sie als Altenteil zur Belohnung für ein ganzes Leben voll treuester Pflichterfüllung im Hause des Grafen erhalten hatte, lag inmitten eines der Ausläufer des Parks, in der Nähe der Verwaltungsgebäude. Hier lief das Eisengitter, das die gräfliche Besitzung begrenzte, schon durch den Anfang der Heide, und die rötlichen Erika- büschel drängten sich bis an die hellgetünchtcn -Wände des kleinen Hauses.
Die alte Frau saß vor der Thür. Auf einem Bänkchen zu ihren Füßen kauerten, eng aneinander geschmiegt, mit großen horchenden Angen, die gräflichen Kinder. Die Mittagshitze weckte perlende Schweißtropfen auf den zarten Gesichtern, die