Heft 
(1889) 40
Seite
667
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^ 40.

Deutschland.

Seite 667.

Dss Lied vom Hemde.

Von

K. KekfericH.

. . . In den abgenutzten Fingern führte eine emsige Näherin die Nadel; ihre Augenlider waren schwer, ihre Augen brannten. Stich -- Stich Stich; Himmel erbarme Dich." Mit einer Stimme von schmerzlichster und rührendster Gewalt sang sie ein Lied vom Hemde.

Nähe nähe näh',

Wenn ich früh mit dem Hahn erwach,

Und nähe nähe nah',

Wenn die Sterne schauen durchs Dach:

Nähe nähe näh',

Bis Dein Kvpf zu wirbeln beginnt,

Nähe nähe näh',

Bis die Augen zu Ende sind,

Nahe nähe näh',

Dies ist der Sanm, die Manschette,

Die Naht, die Naht, die Manschette, der Saum - Bis Dein Haupt todmüde vornüberfällt Und ich säume halb im Traum. -

O Männer! Nicht Hemden sind es, die von Euch auf­gebraucht werden, sondern die Lebenstage armer Personen. Mit doppeltem Faden näh' ich zugleich mit dem Hemde an meinem Leichentuch. Mir bangt nicht vor dem Tode; dies Wesen ans schrecklichen Knochen wird mich nicht überraschen. Sein Anblick gleicht zu sehr dein meinen! Sein Anblick gleicht meiner Gestalt, die langes Fasten verzehrt hat; warum auch ließest Du's zu, Gott, daß Brot so teuer ist; und man nur das Fleisch und Blut umsonst hat? Und was ist der Lohn? Ein Bett von Stroh, eine Kruste Brot, der Tisch, der Stuhl, dies zersprungene Dach und jene Wand vor mir, welche so weiß und nackend ist, daß ich meinem Schatten danke, wenn er manchmal darauffallt!

Nähe -- nähe - näh'. Im Licht des Demzembertags; mit krankem Herzen, Betäubung im Kopf und zerstochenen Fin­gern. Am Frühliugsmorgeu; wenn unter meiner Dachtraufe brütende Vögel eingenistet sind und mir ihr svuueuglänzendes Gefieder zeigen, und mich mit der Leichtigkeit des Fluges, der Sonne und dem Frühling necken! O nur den Duft zu riechen von einer süßen Blume! Den freien Himmel mir zu Häupten und frisches Gras unter meinen Schritten zu denken! Nur für eine Stunde . . . eine zeitraubende Befestigung von Hoff­nungschöpfen und Geliebtwerden will ich ja nicht! Eine kurze Stunde möchte ich nur, um Zeit fürs Grämen zu haben.

Ein klein wenig Weinen, das würde mein Herz erleichtern können. Darf ich aber? Ich muß meine Thräuen festhalteu; denn jeder fallende Tropfen schädigte die Arbeit! In den abgenutzten Fingern führte eine emsige Näherin die Nadel... Ihre Augenlider waren schwer, ihre Angen brannten . . . Stich Stich - Stich; Himmel erbarme Dich." Mit einer Stimme von schmerzlichster und rührendster Gewalt sang sie: Das Lied vom Hemde."

-I- -!-

Thomas Bod wurde 1798 geboren; er starb 1845. Seine Werke bringen entweder herzliche Freude oder ein trauriges Weinen hervor. Man möchte im Zweifel bleiben, ob sie den Zeitgenossen mehr Anlaß zum Weinen oder zur Heiterkeit ge­geben.

Bods Leben stellt sich aus fortgesetzten Kämpfen gegen widrige Schicksale zusammen. Wenn es heroisch ist, unter Un­glücksschlägen liebenswürdig zu verbleiben, wenn das Herz weint zu lächeln, und zu arbeiten, wenn die Gesundheit schlecht ist daun wird man Thomas Bod den heroischen Menschen zu- zählen dürfen. Die letzten zehn Jahre seines Lebens war er fortwährend von Sorgen umgeben. Ein Unfall, der von außen hereintraf, nahm ihm alle Subsidien, er verzichtete darauf, seine Zuflucht zum Bankbruch zu nehmen, und zog es vor, dreifach

zu arbeiten, um sich seinen Verpflichtungen gewachsen zu zeigen. Schon aber war sein Körper von Anstrengungen überwältigt; der «sonst; ob tllo sinnt» entstand ein Jahr vor seinein Tode. Als er 1844 in der Weihnachtsnnmmer desPunch" erschien, war die Wirkung eine ungeheure durch das ganze Land hin; aber der Dichter legte sich ein Paar Monate später zur ewigen Ruhe nieder und schläft auf dem Friedhof von Kensal Green von seiner irdischen Mühsal aus.

In der volkstümlichen Dichtung ist in ergreifender Weise das Elend zum Ausdruck gebracht worden, unter dem ein großer Teil der Frauen ans dem englischen Volke leidet. Als das vorliegende Gedicht zuerst in den Blättern gelesen wurde, ging ein Sturm des Mitgefühls durch das Land; eine große Be­wegung entstand, Wohlthätigkeitsunternehmnngen von nicht zu glaubender Ausdehnung nahmen von dem Gedicht ihren Ur­sprung. Die Wirkung desselben war eine derartige, daß man auf den Grabstein Bods kein besseres Lob zu setzen wußte als die positiven Worte: er sang tllo sonst- ob rin; llui-t.

Ekmkte twttii'ii-irlj.ilnmmy.

Von

Ir-cnrz Serenes.

er Geist Zolas beginnt gewaltig umzngehen in der deutschen Litteratnr. Das doktrinäre Element, welches diesem sonst so echt gallischen Dichter beigemischt ist, bahnte ihm den Weg in die deutschen Köpfe. Es wird ja immer so bleiben, daß der Deutsche sich erst theoretisch tüchtig verschanzt haben muß, bevor er es wagt, mit schöpferischen Lei­stungen entschieden hervorzntreten. Heute hat Zola diese Schan­zen gebaut, und junge deutsche Schriftsteller zeigen sich be­flissen, sie so hoch aufzntürmen, daß die Kunst kaum dahinter hervorgucken kann.

Alan sieht Zola gegenüber, wie es scheint, nur zwei Wege: entweder ihn uachzuahmen, oder ihn zu übertrumpfen. Es gäbe auch noch einen dritten. Ihn zu bekämpfen! Doch davon später.

Eine Zeitlang plagte man sich mit der Nachahmung ab. So trug Kretzer mit Stolz den Namen einesdeutschen Zola." Im jüngeren Nachwuchs dagegen begann sich etwas wie Na­tionalgefühl zu regen, es trat auch ein Gran von Kritik hinzu, und so kam man zu der Einsicht, daß uns mit der Nachahmung schlechtweg doch wohl nicht gedient sein könne. Indes hatte man Zola bereits zu sehr mit Haut und Haaren verschluckt, als daß man ihn so ohne weiteres wiederHütte von sich geben können. So blieb also nur der Weg des Übertrumpsens übrig.

Charakteristischerweise faßte man dies nicht von der pro­duktiven Seite, sondern am theoretischen Zipfel an. Man fand den französischen Lehrmeister nicht ganz schlecht, aber man zieh ihn der Halbheit. Man nahm es ihm übel, daß er über Taine nicht hiuausgekommeu war, daß er, sei es aus Gedankenlosigkeit, sei es aus Zaghaftigkeit, noch dasalte Dogma" unterschrieb: In der exakten Reproduktion der Natur besteht das Wesen der Kunst nicht."

Arno Holz sieht in diesem Dogma nichts anderes als eine unbewiesene Behauptung.Oder irren wir uns? Hat sie schon jemand bewiesen?" fragt er spitz. Man könnte gegen- fragen, wer dieserjemand" überhaupt sein sollte, und ob denn allen Ernstes derartigesbewiesen" werden könne? Ob man nicht vielmehr den Verlauf der Dinge darüber richten lassen müsse? Genug, Aruv Holz sieht in jenem Dogma ein Wachsklümpcheu," und er spreizt die Finger aus, um das­selbe zu zerquetschen.

Man beachte: Es handelt sich nicht um den einfachen