Seite 668.
Deutschland.
40.
Begriff einer Reproduktion der Natur, sondern um den zusammengesetzten und verschärften einer „exakten" Natnrnach- ahmung. In diesem „Exakt" liegt das Nene, mit dem man über Zola hinauszukommen hofft. Es kann ohne weiteres zugestnnden werden: Wenn man sich einmal fest auf Zolaschen Boden gestellt hat, dann ist diese Neuerung nichts anderes als eine richtig gezogene Konsequenz. Zola sagt ausdrücklich: „Die Dichtung war bis jetzt eine Kunst, sie muß eine Wissenschaft werden," und er glaubt mit diesem Axiom dem Geist der Neuzeit — fast möchte man schreiben „der Geistlosigkeit der Neuzeit" — gerecht zu werden. Er hatte Darwin und Taine und John Stuart Mill und den Physiologen Claude Bernard eifrigst studiert, und es war sein lebhafter Wille, die daraus gewonnenen Anschauungen direkt für die Dichtung dienstbar zu machen. Mit der ihm eigenen, blind zutappenden Brutalität stieß er das neue Pfropfreis in den alten Stamm hinein, daß die Säfte nur so spritzten. Daß die Verbindung eine unorganische war, sah er nicht, oder es bekümmerte ihn nicht. Er war der felsenfesten Überzeugung, einen neuen Baum gepflanzt zu haben, und er that alles, um dessen Wachstum zu fördern. Indes war er doch eine zu energische Subjektivität, es steckte zu seinem höchsten Schmerz zu viel echtes Künstlerblut in seinen Adern, als daß er mit einer Verwissenschaftlichung der Kunst — man verzeihe den Ansdruck, aber für eine häßliche Sache gehört sich auch ein häßliches Wort — wirklich Ernst machen sollte. Er bedurfte eines Hinterpförtchens, durch das ihm der Blick in das schöne alte Land geöffnet blieb. Dieses Hinterpförtchen fand er in dem ihm gleichfalls von der Wissenschaft gelieferten Begriff des „Temperaments." Zola selbst besitzt sehr viel Temperament, und er mag deutlich genug gefühlt haben, daß er es nicht abznschütteln vermag. Somit erklärte er, daß der Dichter, bei all seinem Streben nach Objektivität und Wissenschaftlichkeit, die Dinge doch immer durch sein Temperament anschane. Dies heißt in grobem Deutsch nichts anderes als: Es ist purer Schwindel mit der ganzen Wissenschaftlichkeit in der Kunst, weil der dumme Künstler ans seiner Haut uicht heraus kanu.
Wir Deutschen sind ein kühleres Volk als die Franzosen. Wir haben kein so lebhaftes Temperament, und wir haben engere Beziehungen zur Wissenschaft, lins wird daher das Temperament weniger stören, wenn wir einmal mit einer Verwissenschaftlichung der Kunst Ernst machen wollen. Insofern weist die Verschärfung, welche Arno Holz der Zolaschen Lehre hat nngedeihen lassen, ein entschieden nationales Gepräge ans. Wenn einmal Wissenschaft, dann auch ganze Wissenschaft! Und wenn Naturnachahmnng, dann auch exakte Natnrnach- ahmung! Mit seinem Freunde Johannes Schlaf zusammen hat Arno Holz diese theoretische Konsequenz systematisch und methodisch auf das Gebiet der Produktion übertragen. Nach einigen minder sicheren Anläufen haben sie vor kurzem in der „Freien Bühne" eine „Berliner Studie" veröffentlicht, der man eine strenge und rücksichtslose Anwendung des neu ausgestellten Lehrsatzes nachrühmen muß. In der Darstellung herrscht absolute Temperamentlosigkeit: eine Fülle kleiner und kleinster Beobachtungen wird mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit zusammengetragen und zu kleinen, meist recht anschaulichen Bildchen formiert. Einen eigentlicheil Inhalt hat die Studie nicht. Ein paar Leute ans dem Volk sitzen in einer Küche, vier Treppen hoch, zusammen, unterhalten sich im Dialekt und warten auf die Herstellung von Kartofselpufferteu. Nachdem dieselben fertig sind, essen sie sie ans. Dazwischen brüllt ein Student im Nebenzimmer Lieder, und prügeln sich ans dem Hofe ein Mann und eine Frau. Es ist weder ein Anfang noch ein Ende, noch eine Mitte da; sondern man sieht das Stück von einem Faden, der nach vor- und rückwärts bis ins Endlose sortge- sponnen werden kann. Da der Studie ein Mittelpunkt fehlte, so befanden sich die Verfasser in eigentümlicher Verlegenheit betreffs der Wahl eines Titels. Sie kündigten an: „Olle Kopelke," was nicht ganz zutreffend gewesen wäre, und sie ließen dann drucken (vermutlich mit Rücksicht auf die Karwoche):
„Die papierne Passion," was völlig unzutreffend ist. Kon- seqnenterweise Hütten sie ans einen Titel, als konventionellen Kram, ganz verzichten müssen.
Ich möchte nicht ungerecht gegen die keineswegs unbegabten, und jedenfalls ernst vorwärts strebenden jungen Verfasser sein, und gestehe daher willig zu, daß gegen eine solche „Studie" an sich nicht das mindeste einzuwenden ist. Die „Andacht zum Unbedeutenden" wußte Wilhelm Scherer an Jakob Grimm zu rühmen, und es findet sich von dieser echt deutschen Eigenschaft auch etwas bei Arno Holz und Johannes Schlaf. Doch könnte die Andacht immerhin größer und das Unbedeutende geringer sein. Ich gestehe weiter zu, daß durch fleißige und selbstlose Beobachtungen dieser Art die Ausdrucksmittel der Kunst mit der Zeit eine ansprechende Erweiterung erfahren können. Ich möchte auch die jungen Verfasser in ihrem Wege keineswegs irre machen — ins gelobte Land der Knust, wie nach Rom, führen viele Wege — ich möchte ihnen nur eine größere Bescheidenheit anempfehlen. Sie brauchen ja deshalb keineswegs gleich zu „Lumpen" zu werden, aber sie sollten sich doch auch nicht so gebärden, als ob sie das Geheimnis der Zukunftsdichtnng erschnappt hätten. Ihre theoretischen Anschauungen beruhen, wie ich nachgewiesen zu haben glaube, ans der sinnlosen Ausbeutung eines Trugschlusses. Mit „Konsequenz" allein läßt sich in der Kunst nichts erreichen. Der Künstler muß den Mut der Inkonsequenz haben, sonst schneidet er sich selbst die Lebenslust ab. Sein Element ist die Anschauung und uicht die logische Deduktion.
An Anschauung fehlt es ja unseren beiden Dichterjüng- lingen keineswegs; doch haben sie sich durch ihre logischen Deduktionen in der Freiheit derselben ungebührlich einschrünken lassen. Sie schauen nur mit den Angen des Körpers, aber nicht mit den Augen des Geistes an. Sie wagen es gar nicht, etwas zu schildern, das sie nicht exakt beobachtet haben. Sie stutzen ihrer Phantasie die Flügel und berauben sich hierdurch ihrer besten Kraft. Exakte Naturnachahmnng ist ein ganz kannibalischer Begriff; er ist die Apotheose der Impotenz. Er ist die Unterdrückung der freien künstlerischen Persönlichkeit. Er ist die Fesselung der Kunst durch die Handschellen der Wissenschaft.
Jedes Knnstzeitalter hat seine neuen Grenzlinien zu ziehen. Das unsere hat die Grenzlinie zwischen Kunst und Wissenschaft zu ziehen. Kunst und Wissenschaft verhalten sich zu einander wie Subjektivität und Objektivität. Was in der Wissenschaft verpönt ist, das ist in der Kunst eine Tugend, und es ist Fug in der Kunst, was in der Wissenschaft Unfug ist. Der Gelehrte hat im wesentlichen nichts anderes zu thnn, als Thatsachen festzustellen und in Geduld abznwarten, ob sie ihn etwas lehren werden. Der Künstler aber hat das Recht, seine Subjektivität in die Wagschale zu werfen, und allem, was er schildert, den Atem seiner Persönlichkeit eiuzuhauchen. Läßt er sich dieses Recht rauben, dann begeht er einen Verrat an der Kunst. Er bringt sie in unwürdige Knechtschaft; sie, die in der Freiheit allein existieren kann. Arno Holz wünscht „staatliche" Freiheit für die Kunst; er thäte besser, ihr die individuelle Freiheit zurückzngeben — oder vielmehr nicht znrückzngeben: denn er kann sie ihr nicht rauben. Aber er sollte seiner eigenen Individualität eine größere Freiheit gönnen.
Die Kunst muß ganz sie selbst sein. Sie hat mit der Wissenschaft nichts zu thnn. Sie mag von ihr lernen, sie darf sich von ihr anregen lassen; aber sie darf sich nicht von ihr knebeln lassen. Das Dogma von der exakten Natnrnach- ahmung ist eine solche Knebelung. Es sucht die Kunst ans ein winziges Gebiet einzuschrünken, ans dem sie sich nicht bewegen kann. Es rechnet nicht mit der vornehmsten künstlerischen Eigenschaft, mit der Phantasie. Die Phantasie kehrt sich nicht an die Forderung der exakten Nntnrnachahmnng; denn sie weiß, daß sie sie nicht erfüllen kann. Sie bedarf stets nur eines kleinen Anstoßes von der äußeren Welt, und dann geht sie ihren eigenen Weg, nach ihren eigenen Gesetzen. Kein echter Künstler wird die Beobachtung verschmähen; sie liefert ihm sein