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Deutschland.
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kostbarstes Material. Aber er muß frei damit schalten können. Er kann es, also darf er es. Wenn Goethe von sich anssagte, er brauche mit einem Menschen nur eine Viertelstunde lang gesprochen zu haben, und er könne ihn ganze Stunden hindurch reden lassen, so hat er damit an einem einzelnen Falle die besondere dichterische Fähigkeit in ewig mustergültiger Weise formuliert. Der Dichter erschaut mit dem ihm eigenen instinktiven Blick die verborgenen Gesetze der Dinge, und daraus leitet seine Phantasie, gestaltend und denkend, ein unermeßliches Reich von Möglichkeiten ab, in dem sie frei schalten kann, je nach Zweck, Ziel und Bedürfnis. Wie wenig kann der Künstler thatsüchlich beobachten! Und wie vieles giebt es für ihn zu schildern! Soll das ihm alles verschlossen sein, wo er nicht persönlich dabei gewesen ist? War Dostojewski vielleicht zugegen beim Morde seines Raskolnikow? Oder ist Ibsen irgendwo dem „fremden Mann" begegnet? Und doch sind Dostojewski und Ibsen zwei Realisten, die mau, wie ich denke, wird gelten lassen.
In dem Moment, wo der Künstler schafft, ist er einzig und allein Künstler: ohne Wissenschaft, ohne Geist, ohne Moral; ganz Anschauung, ganz Phantasie. Kein Zweifel, er muß Wissenschaft, Geist und Moral besitzen, aber sie müssen sich bei ihm in Anschauung und Phantasie verwandeln. Damit dies möglich sei, muß der Künstler Individualität haben, d. h. er muß Beobachtungen nicht bloß ängstlich Zusammentragen, sondern! er muß sie in seinem Innern beleben und mit dem eigenen Geiste durchdrungen. Er muß viel schärfer sehen, als irgend ein Mensch beobachten kann; er muß den Dingen ins Herz sehen, und dazu muß er selbst nicht bloß ein Herz besitzen, sondern es auch in Thütigkeit fetzen. Er muß daher mit der ganzen Seele dabei sein; die Welt um ihn muß versinken, und er darf bloß noch die Gestalten seiner Phantasie sehen. Diese Gestalten werden sich nach eigenen organischen Gesetzen entwickeln, die jede Willkür ausschließen. Der Künstler braucht dauu uur uachzuschreibeu, was er im Geiste sieht, und er braucht nicht zu fürchten, daß er Falsches sieht. Davor schützt ihn die künstlerische Ehrlichkeit. Diese Ehrlichkeit — auch Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe genannt — muß freilich vorhanden sein. Sie ist der Lebensnerv des Künstlers. So ist, was schließlich den Ausschlag giebt beim Gelingen feines Werkes, nichts anderes als seine sittliche Persönlichkeit.
Ob Zola eine solche sittliche Persönlichkeit ist? wenigstens nach deutschen Begriffen ist? Ich zweifle daran. Dabei denke ich mit Nichten an die sogenannten unsittlichen Stellen, die sich zahlreich genug in seinen Romanen finden. Es stünde mir übel an, wenn ich, nachdem ich für die künstlerische Freiheit gesprochen habe, konventionelle Moralschranken aufrichteu wollte. Indes dürfte über das Verhältnis von Kunst und Moral das letzte Wort noch lange nicht gesprochen sein. Stets haben die Künstler darüber geseufzt, daß sie von der Moral eingeengt würden, und stets haben doch die Großen unter ihnen nach neuen Mvralzielen ausgeschaut. Ich neune unter den Heutigen Ibsen. Aber, frage ich, finden sich auch bei Zola Elemente einer neuen Moral? Ich finde keine. Wohl aber sehe ich ein unablässiges Kokettieren mit der alten Moral, verbunden mit „objektivem" Wohlgefallen an der Gemeinheit. Zola schildert die haarsträubendsten sittlichen Ausschweifungen, und stellt dann sich selbst als einen vir l>uinu6ulutu8 denselben gegenüber. Thut das wohl ein Mann, dem es mit seiner Sache heiliger Ernst ist? Ich glaube, nein. Ich habe stets Hochachtung gehabt vor Zolas künstlerischem Können, aber mir fehlt die Ehrfurcht vor feiner künstlerischen Persönlichkeit. Seine Moral, wie seine Theorie hat er sich zu eigenstem Hausgebrauch auf den Leib geschnitten. Er hält dieselben vor als einen blinkenden Schild, von dessen Funkeln zumal wir gutmütigen Deutschen uns haben blenden lassen. Wir ahnen gar nicht, daß er hinter diesem Schilde nach Willkür seine Grimassen schneidet, und glauben da einen Helden zu sehen, wo nur ein ungeschlachter Goliath einhertappt, ein greulicher Philister, gegen den wir je eher je besser einen David ins Feld zu stellen
haben werden. Wenn die deutsche Litteratur sich zur Selbständigkeit durchringen will, dann darf sie den Bahnen Zolas nicht länger folgen. Sie würde sich bloß in einen Sumpf locken lassen. Weder die Pseudo-Wissenschaftlichkeit, noch die Pseudo-Moral Zolas darf es ihr anthun. Sie muß ganz mit eigenen Augen sehen und mit dein eigenen Herzen fühlen. In Zola aber steckt, außer seiner Pedanterie, kein einziges deutsches Element, wie auch der Verfasser von „Rembrandt als Erzieher" mit Recht betont hat. Wenn wir eine nationale Kunst haben wollen, dann müssen wir Zola den Abschied geben. Wir brauchen seine staunenswerte künstlerische Begabung nicht zu verkennen, aber wir dürfen uns auch nicht durch ein weichherziges Gerechtigkeitsgefühl bestimmen lassen, das an ihm zu preisen, was wider unsere eigenste Natur ist. Auf dem Wege sanftmütiger Gerechtigkeit ist noch niemals etwas Neues, geschweige etwas Großes geschaffen worden. Wir müssen uns auf unsere eigene Kraft besinnen, und, wenn nichts anderes übrig bleibt, gegen die französische «dete noira» die deutsche „blonde Bestie" loslassen.
Der Zolaismus ist der Lindwurm, den der Siegfried der neudentschen Dichtung zu erlegen haben wird.
Vom Lingen in der Schule.
Bon
Prof. vr. P. Dettweiler.
ch^n der Schule soll der Gesangunterricht zunächst auf dem Gebiete des ästhetischen Interesses das Ohr zur Erkenntnis der Schönheit der Töne und der musikalischen Schöpfungen befähigen. Dabei ist er bei richtigem Betriebe ein lokal verschiedenartiges, aber nie ganz unwichtiges Mittel, um die Organe der Stimme rein mechanisch zu unterstützen, auszubilden und zu wirksamem Gebrauche zu kräftigen. Dies geschieht, indem die Herrschaft über die Lungenatmung dadurch in höherem Maße herbeizuführen ist, daß dem Schüler beigebracht wird, wie und wann er die Luft in die Lungen einziehen und wie er die Entleerung der Lungen bewerkstelligen soll. Dann aber muß der Gesangunterricht überall darauf hiu- arbeiten, die Aussprache von unberechtigten Provinzialismen — es giebt auch berechtigte — mehr und mehr zu reinigen. Aus dem Gebiete der Vokale erinnere ich nur an die greuliche Aussprache mancher Diphthonge, wie eu, äu; auch das einfache a, namentlich aber die Umlaute ö und ü bedürfen einer unermüdlichen Korrektur. Die abenteuerlichsten Verhunzungen z. B. in Bezug auf g, k und ch, auf d und t dürften ebenfalls der Aufmerksamkeit des Gesanglehrers besonders zu ein pfehlen sein. Auch die richtige Aussprache des r gehört vielfach zu den Schmerzenskindern des Gesangunterrichts, obgleich es scheint, daß der Gesanglehrer hier oft vergißt, daß Singen und Sprechen noch nicht dasselbe ist. Endlich beruht die Bedeutung des Schulsiugeus ans dein sogenannten sozialen Interesse, d. h. auf dem erhebenden Bewußtsein des Schülerchors, als ein Teil eines größeren Ganzen an der Wiedergabe klassischer Musikwerke mitzuwirken, oder den Gefühlen der großen Schülergemeinde im Liede, namentlich im patriotischen und religiösen Liede Ausdruck zu geben und zugleich auch nach außen hin bei allen Schulfeierlichkeiten zu einer würdigen und erbaulichen Vertretung der Schule beizutragen. In diesen! Siuue richtig behandelt wird der Bortrag des Chorals oder der sonstigen kirchlichen und religiösen Musik zum wirklichen Gottesdienst, für den Ausübenden in erster Linie, da ihm in den hervorgebrachten Tongebilden die Macht der zu Grunde liegenden Worte und Gedanken doppelt zum Bewußtsein kommt.
Wenn wir im vorhergehenden Stellung und Bedeutung des Gesanges namentlich in der Schule kurz umschrieben zu
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