Heft 
(1889) 40
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Deutschland.

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haben glauben, so würde es sich nun um die Ausführung der sich daraus ergebenden Thatsachen handeln. Indessen können wir hier nicht gewillt sein, dem Gesanglehrer im einzelnen Vor­schriften machen zu wollen. Ob sich derselbe mehr oder we­niger den: Ideal der Anforderungen nähert, wird stets mehr von seiner Persönlichkeit abhängen als von immerhin laien­haften Theorieen. Hier möge jetzt nur ein Punkt zur Aus­sprache kommen, der, wie mir scheint, mit Recht von ärzt­licher Seite getadelt wird. Es mag dies zugleich als Beweis dienen, daß es den Pädagogen am allerfernsten liegt, berechtigten Wünschen der Ärzte kein Verständnis ent­gegenzubringen oder wenigstens dies Verständnis sich nicht an- eignen zu wollen. Aber auch das Elternhaus muß sich über die einschlägigen Fragen die nötige Klarheit verschaffen. Sonst kann es dieselben Unzutrüglichkeiten herbeiführen wie die Schule.

Es ist zwar bekannt, daß die menschliche Stimme in dem Pubertütsalter, also beiläufig vom vierzehnten bis siebzehnten Jahre, sich in einem Übergangsstadium befindet; allein die man­nigfachen Vorsichtsmaßregeln, die in dieser kritischen Zeit zu beobachten sind, werden aus verschiedenen Gründen so häufig und so gründlich außer acht gelassen, daß besonnene Kenner geradezu ausgesprochen haben, in dieser Zeit leide die Mehrzahl der Männerstimmen Schaden. Es liegt auf der Hand, daß dieser Schaden von Lehrern und Eltern ge­meinschaftlich im Interesse des wichtigen Organs und seiner verschönenden Wirkung auf ein mögliches Minimum znrück- znschrauben ist. Da bei dem weiblichen Geschlechts der Stimm­wechsel entsprechend den übrigen Wachstumsverhültnissen nicht so unvermittelt eintritt, ja vielfach ganz unbemerkt vorübergeht, so ist die Gefahr für die Mädchen weniger groß. Immerhin sind wirklich gesunde Stimmen auch hier selten.

Das Organ, welches die menschliche Stimme ausschließlich entstehen läßt, ist, trotzdem daß der Sprachgebrauch eine Brust- und Kopfstimme u. s. w. kennt, nur der Kehlkopf. Durch die große Veränderlichkeit des Mundrachenraumes wird eine Mannigfaltigkeit der Töne ermöglicht, die keinem musikalischen Instrumente eigentümlich ist. Vor allen aber sind es die Stimmbänder, welche die Töne erzeugen. Man hat sie passend mit den Saiten eines Instrumentes verglichen. Denn ebenso wie diese, müssen sie zwischen ihren Endpunkten erst gespannt werden, lim einen Ton hervorzubringen, und zwar für verschie­dene Tonhöhen verschieden. Das Aneinanderschlagen der Stimm­bänder und ihre Spannung wird bewirkt durch die verschiedenen Muskeln, die zu ihnen in Beziehung stehen. Diese Beteili­gung der Muskeln ist eine sehr ausgedehnte und komplizierte, und deshalb im einzelnen hier nicht zu verfolgen. Nun ver­ändert sich der Kehlkopf mit seinen Hilfsorganen in dem Alter der Reife überraschend schnell. Aber durch dies rasche Wachs­tum verändern sich auch die Verhältnisse zwischen dem Kehlkops, den Stimmbändern und Muskeln. Der Eigentümer verliert fast den richtigen Gebrauch derselben, weil ihm die Herrschaft über seine Organe durch diese Veränderung in den Verhält­nissen verloren geht. Er kann die Stimmbänder nicht ent­sprechend spannen, weil er das richtige Muskelgefühl noch nicht erworben hat. Kurz, der ganze Stimmapparat besitzt in die­sem Entwickelungsstadium eine nur geringe, vor allem ganz ungleichmäßige Leistungsfähigkeit, es tritt Heiserkeit ein, die Stimme schnappt oft über, die Sprachlaute schwanken in plötz­lichem und unerwünschtem Wechsel zwischen rauhen Baß- und hohen Fisteltönen.

Es ist einleuchtend, daß ein menschliches Organ in der Zeit eines so raschen Überganges, falls es nach allen Rich­tungen seine Leistungsfähigkeit bewahren soll, im höchsten Grade schonungsbedürftig ist. Es ist durchaus erwiesen, daß in den weitaus meisten Füllen die Stimme nur dann erhalten bleibt, wenn während jener Zeit alle gesanglichen Übungen unterblei­ben. Es mag sein, daß der bekannte Dr. Morell Mackenzie, der dafür eintritt, den Gesang auch während der Pubertätszeit nicht völlig anszusetzen, nicht ganz im Unrecht ist. Denn er

geht von der Bedingung aus, daß stets die nötige Sorgfalt angewendet, daß die Stimmausbildung nur unter sachgemäßer Aufsicht und mit sorgfältiger Vermeidung jeder Überanstrengung fortgesetzt werde. Allein wo wird dies bei dem Massennnter- richte möglich sein? Und wenn dies der Fall sein könnte, so müßte doch auch der Gesanglehrer fast ein Specialist für Kehl­kopflehre sein. Deshalb hat auch gerade derVater der Kehl­kopflehre," der Mann, dem es zuerst gelang, seinen eigenen Kehlkopf während der Vokalbildung, der Atmung und des Ge­sanges zu beobachten, der berühmte Musiker Manuel Garcia in London, Verwahrung gegen die Mackenzieschc Ansicht ein­gelegt und darauf hingewiesen, daß er selbst während der Über­gangszeit fortgefahren habe zu singen, und seine Stimme da­durch völlig ruiniert habe.

Abgesehen von dem völligen Verluste der Stimme für den Gesang, hat eine Vernachlässigung während der Periode des Mutierens," des Stimmwechsels, oft eine Unannehmlichkeit im Gefolge, die noch weit fühlbarer ist. Der bekannte Kehl­kopfspecialist Prof. Carl Stoerk in Wien macht in einem Lehr­buche darauf aufmerksam, daß viele Personen eine im Ver­hältnis zur Größe ihres Kehlkopfes und ihrer Stimmbänder zu hohe oder zu tiefe Stimme haben. Während die einen im tiefsten Baß sprächen, brächten die anderen nur ein oft lächerlich wirkendes Piepsen hervor. Durch eine sehr energische Gymnastik läßt sich dieser unangenehme Mangel beseitigen; er rührt nur daher, daß in der kritischen Zeit niemand sich um die Pflege und Schonung der Stimme kümmerte.

Wenn nun auch in den meisten Füllen rechtzeitig der Ge­sangunterricht abgebrochen wird, so scheint doch hier wie sonst, wenn man den Versicherungen tüchtiger Kehlkopfürzte Glauben schenken darf, der Schlendrian seine gewohnte, allem Unbeque­men und gar allen Neuerungen abholde Rolle zu spielen. Der Wunsch der Gesanglehrer, mit einem gut nusgebildeten und vollzähligen Chor zu glänzen, trügt wohl die Hauptschuld an dem Ruin so mancher schönen Stimme. Denn ans der einen Seite verhindert dieser leicht begreifliche Wunsch oft, daß die Schonungszeit völlig durchgeführt und die Stimme erst all­mählich wieder an den Singprozeß gewöhnt werde, auf der anderen Seite bewirkt dasselbe Chorsingen, daß dem Stimmen­verhältnis zuliebe Schüler gezwungen werden, Tonlagen her­vorzubringen, zu denen sich ihre Organe ganz und gar nicht eignen. Ich erinnere nur an die Tenvrnot bei den meisten Schülerchören. Dies Hinauf- und Hinabschrauben der Stimme ist aber das schädlichste aller Experimente mit dem Kehlkopf. Es richtet die Stimme in der Regel zu Grunde oder macht sie wenigstens schwankend und unsicher. Es ist im ganzen ge nau so unsinnig, als wenn man eine fiir Baßtöne eingespannte Saite so überspannen wollte, daß sie beim Anschlägen Violin töne gäbe. Überhaupt ist kein Zweifel, daß das Singen im Chore die Zahl der guten Sänger nicht vermehrt hat. Denn wie bei keinem anderen Unterricht, so beruht beim Gesang der Erfolg darauf, daß von vornherein individualisiert werde und das Kind nur seiner Stimmlage und seiner Singfähigkeit ent­sprechend singe.

Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß eine wirksame Über­wachung des Gesanges nach den verschiedensten Seiten not­wendig ist. Denn wie es feststeht, daß das Singen in der Kindheit auch rein physiologisch heilsam wirkt, indem es durch die richtige Übung der Stimmorgane die Brust nusdehnen und die Atemmuskeln kräftigen läßt, ebenso sehr schadet ein tiber­müßiges oder nnzeitiges Singen denselben Organen und macht uns leicht unfähig, das vollkommenste aller musikalischen In­strumente, den Kehlkopf, in seiner unübertroffenen Schönheit zu gebrauchen. Es wird nicht als eine unberechtigte Forde­rung der Kehlkopfspecialisten angesehen werden können, daß der Gesanglehrer sich mit den elementarsten Bedingungen für die Hervorbringung der Töne nicht bloß bekannt mache, sondern diese Kenntnis auch in praktische und vernünftige Maßnahmen umsetze. Aber auch unvernünftige Eltern, die ans dem stimm­lich beanlagten Kinde nicht früh genug einen Künstler oder