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Deutschland.
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Dezemberfrostes und lehnte sich, soweit es anging, in die Straße hinaus, um sich die Anwendung der Staatsraison auzusehen. Lneie hörte von ihm nur noch abgerissene Worte von draußen ins Zimmer hinein: „Über zweitausend Bummler-Maul
affen feil zu halten — — Kompanie hält — —"
Die große Stutzuhr über dem Marmorkamin schlug ihr Helles Eins.
„Die Zeichnenstnnde ist zu Ende, jetzt kommt Richard gleich!" rief Frau Lneie freudig. Dann aber schrie sie angstvoll ans und trat dicht ans Fenster —: „O mein Gott, unser Richard, — lieber Karl, unser Richard — —"
„Na, was ist denn mit Richard?" rief er von draußen, ohne sich nmzudrehen.
„Er muß ja über den Kaiser Wilhelmsplatz!" Sie griff nach ihres Mannes rechter Hand und zerrte ihn mit Gewalt vom Fenster.
Auch der Geheime Kommerzienrat fühlte eine unbestimmte Angst in der Kehle; dann aber machte er sich sanft, gemächlich von seiner Frau los: „Liebes Kind, Richard ist doch kein Baby mehr. Er kann dann eben nicht über den Platz kommen und nimmt den kurzen Umweg über die Rheinstraße. Habe Dich doch nicht so."
„Aber wenn er nun doch —" stöhnte Frau Lneie. Indessen ihr Mann hing schon wieder mit dem Oberkörper zum Fenster hinaus.
Unheimliche Stille breitete sich über den weiten Platz, den die zu Tausenden gescharten Arbeiter und Neugierigen anfüllten. Nur ein paar kurze Lvkomotivenpfiffe kreischten durch die Luft. Zuweilen auch drang bis in die offenen Fenster vereinzeltes lautes Gelächter, vielleicht über einen Dummenjnngenwitz ans der Menge. Die Soldaten standen wie eine Mauer; ihre Helmspitzen und Bajonette blinkten in der Hellen Wintersonne. Aber jetzt begann es in dem kanten Menschenhaufen ans dem Platz zu schieben und zu wogen; die hinten Stehenden drängten gewaltig nach vorn. Näher und näher wälzte sich die vorderste Menschenwelle auf die zu langer, dünner Front auseinandergezogene Kompanie.
Horch, ein Kommando von weithin hallender Befehlsstimme. Ein kurzes, fremdartiges, gellendes Trompetensignal dringt schmetternd in die Lüfte. Eine meckernde Zungenstimme äfft höhnend das Warnungszeichen nach. Dann eine Aufforderung. Alan versteht nicht, wie sie lautet, aber man hört es bis hierher, wie furchtbar ernst es dem Manne ist, der dort ruft. Nun noch einmal dieselbe Stimme, und zum drittenmal, — dann ein Kommando! War es nicht: Feuer!? — Ein Signal im Dreiachteltakt, rollendes Flintengeknatter, Geheul und Gekreisch ohne Ende. —
Frau Lneie ist mit einem leisen Schrei ohnmächtig ans den nächsten Stuhl gesunken; ihre Lippen sind bläulich-blaß. Der Geheime Kommerzienrat, etwas weniger purpurn, tritt ins Zimmer zurück: „Na, so beruhige Dich nur, das war auch nur mehr Geschrei als Wolle. Sie haben ja hoch gezielt und in die Luft geschossen. — Aber so komm doch zu Dir, Lneie!" Er rüttelt sie unsanft bei den Schultern. „Sie haben es nicht anders haben wollen; man muß eben hörensiehe ein Ohr abfällt." — Er hat eins der großen geschliffenen Krhstallglüser voll Wasser geschluckt und versucht, der Frau ein Paar Tropfen einznflößen. Sie liegt mit dem Kopf über der Stuhllehne,
ihre Zähne schlagen aufeinander, ihre Augen irren suchend nach dem Fenster; das Wasser trieft auf ihr Kleid und die matt niederhängenden Hände.
Der Geheime Kommerzienrat ist ganz still geworden. Jetzt, wo das geschehen, was er soeben noch für die wahre Staatsraison erklärt hatte, ist es mit seiner Beredsamkeit zu Ende. Er fühlt es — ein ihm ganz fremdes Gefühl — beinahe wie Verlegenheit über sich kommen. Ob er nicht noch etwas essen soll? Ja, wenn etwas recht Pikantes da ist. Ein Paar Sardellen vielleicht? „Schade, sind nicht da. Na, dann nicht. Aber da sind ja Sild oder halt, noch besser, ein Rollmops!" Einen Rollmops —das ist es, was er braucht. -
Ein heftiges, lautes Schellen an der Thürglocke des Vorgartens unterbricht ihn mitten im Aufrollen des Rollmopses. Der Pförtner hat die Gartenthür geöffnet. Schwere, langsame Schritte kommen über den gefrorenen Kiesweg, dann durch den Flur, auf die Thür des Eßzimmers los. Man öffnet sie von draußen, ohne vorher anzuklopfen, und nun sind sie mitten im Zimmer: zwei Männer im Bergmannskittel, die Kappen ans dem Kopf, und legen den Leichnam des erschossenen Knaben ans den weichen Smyrnateppich, dessen Helle Arabesken die wenigen noch aus der Brustwunde sickernden Blutstropfen schnell aufsaugen.
Auf den Spuren eines verschollenen.
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Krnst MorrLcrnus.
is in unser Jahrhundert hinein waren von dem Australkontinent erst die Küstengebiete erforscht worden, und auch dann machte die Erschließung seines Innern zunächst noch sehr langsame Fortschritte. Die Versuche dazu gingen naturgemäß von Nensüdwales ans und begannen 1813 mit der Überschreitung der bis dahin für unüberwindlich gehaltenen Blauen Berge, die jetzt längst von einer Bahnlinie durchzogen werden.
Oxley, Allen Cunningham, Major Mitchell, Ehre und Frank Gregory machten sich verdient um die Erforschung der um die kolonisierten Teile der Küstengebiete sich ausdehnenden Gebirgslünder, allein erst seit der Mitte des Jahrhunderts begannen die Versuche, den ganzen Kontinent zu durchkreuzen und über die Natur seines Innern endlich wahrheitsgetreue Kunde zu bringen.
Ein solches Unternehmen galt nach dem, was man durch frühere Ansätze dazu erfahren hatte, eigentlich von vornherein als aussichtslos und undurchführbar. Stnrt, der von, Süden hatte Vordringen wollen, war durch eine nach seiner Überzeugung endlose Wüste zurückgescheucht worden; im Osten erfuhr Mitchell das gleiche Geschick, und was man in Nord- und Südwesten erforscht hatte, schien ebenfalls dafür zu sprechen, daß das ganze Innere nichts sei, als eine ungeheure, dürre Wüste, jeglicher Kultur unzugänglich und voll von Gefahren und Schrecknissen, die es als eine nutzlose Tollkühnheit erscheinen ließen, tiefer hineinzudringen.
Da war es ein Deutscher, der den festen Entschluß faßte, dies dennoch zu wagen, und den Bann zu lösen, der über dem Innern des australischen Festlandes schwebte. Dieser kühne Forscher hieß Ludwig Leichhardt. Seine erste große Expedition hatte den schönsten Erfolg und spornte ihn an, nunmehr den ganzen Kontinent von Osten nach Westen zu durchziehen.
Mit frohen Hoffnungen trat er die Reise im Dezember