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Deutschland.
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ragend sah er nicht ans; aber wie ein Bettler oder ein reisender Handwerksbursche, dein man mit Vorsicht begegnen muß, auch nicht. Freilich, cs hat immer etwas Verdächtiges, wenn jemand im Winter ohne Überzieher in einem fadenscheinigen schwarzen Tnchanzug einherschrcitet, dein man es ansieht, daß er einst höheren Zwecken diente, und der betreffende Besitzer keinen zweiten im Schranke hat.
„Ich komme — unten die Tafel — ist das vielleicht hier?" antwortete Berthold mit erhobener Stimme.
„Ah so!" Das Wesen verschwand. — Tap — tap — „Mutter, hier ist jemand, ich glaube wegen der Wohnung."
Drinnen allerhand Geräusche: Ein eiserner Topf wurde niedergesetzt — ein Blechlöffel fiel klirrend zur Erde — er mußte dem Tone nach ans Estrich oder Ziegelsteine gefallen sein — — ßchßchßchßch. — „Christa, meine Milch — meine Milch — — so komm'.doch — — laß den Mann jetzt nicht
herein — erst die Fenster ansmachen-Puh der Geruch —
der Geruch!"
Berthold roch es bis hierher, der Brodem drang durch das Schlüsselloch. „Da warte ich gerne." Und während Berthold ans dem engen, unfreundlichen, mit weißem Sand bestreuten Vorplatz stand, hörte er das Hin und Her, die Zurufe und die Antworten von Mutter und Tochter.
Beide befanden sich offenbar in großer Erregung, wahrscheinlich deshalb, weil ihnen nun gerade das Unglück mit der Milch in dem Augenblicke begegnen mußte, als ihnen der vielleicht so lange vergeblich ersehnte Mieter in das Netz lief. Aber dennoch erhoben sich ihre Stimmen nicht lauter als gewöhnlich. Nichts Scheltendes, nichts Kreischendes lag darin, sondern sie klangen im Gegenteil so sanft, dabei so matt, wie Frauen kranken Körpers und leidenden Gemütes zu sprechen pflegen.
Da heftete sich sein Blick, der nach irgend einem erfreulichen Anhaltspunkt Umschau hielt, auf ein Blatt Papier, welches wahrscheinlich an der Thür befestigt gewesen nud herabgefallen war. „Richtig, da sitzen ja noch die Nägel mit den roten Tuchfleckchen darunter." Er hob es auf. „Frau Pastorin Dobeneck," las er.
Etwas Sonniges trat in sein schmales, blondes, kränkliches, nichtssagendes und bartloses Gesicht. „Frau — Pastorin — — — Frau Pastoriu — — —. Wie mir sich das in die Ohren schmeichelt — — Frau Pastorin."
„Ja — ja, das bin ich," klang es hinter ihm. Eine kleine, vorzeitig gealterte Frau steckte den Kopf vorsichtig durch die Thürspalte, offenbar in bester Absicht denselben wieder zurückzuziehen und dem Fremden, der ihr nicht richtig im Kopfe zu sein schien, die Thür vor der Nase zuzuschlagen.
„Frau Pastorin — verzeihen Sie; aber ich sah Sie weder, noch hörte ich Sie. Wie oft habe ich sonst dieses «Frau Pastorin» vernommen, und wie lange, lauge nicht mehr. — Die Leute auf unserem Dorfe nannten meine sel'ge Mutter auch immer — Frau Pastorin."
Berthold hatte ganz leise, mehr wie zu sich selbst, gesprochen, als ob er die Gegenwart von Frau Dobeneck, welche ihn jetzt mit wehmütigem Lächeln betrachtete, ganz vergessen Hütte.
„Aber so kommen Sie doch herein." — Das war die zweite weiche, krankhafte Stimme. Die Thür öffnete sich jetzt voll
ständig, und ein lang aufgeschossenes, bleiches Mädchen, mit welligem blonden Haar, erschien hinter seiner Mutter.
Berthold erkannte sofort das runde Auge, welches ihn vorher durch die Glasscheibe der Thür angesehen hatte. — Es schimmerte blau, himmelblau, und war ihm vorher sein Ausdruck hart und streng erschienen, so empfing er jetzt den entgegengesetzten Eindruck.
Der unangenehme Geruch nach übergelaufener Milch hatte sich noch nicht verzogen, als Berthold in den halbdnuklen Vorraum und von da in die Wohnstube trat. Heller Sonnenschein, durch weiße Vorhänge nicht im mindesten am freien Eintritt behindert, flutete durch den sauberen, notdürftig mit einigen altmodischen Möbeln, den Zeugen besserer Tage, bestellten Raum. Das Bild des Gekreuzigten, hier und da angebrachte Bibelsprüche, einige mangelhafte Familienphotogra- phieen bildeten den Schmuck der blau getünchten, verschiedentlich abgestoßenen Wände.
An den beiden Fenstern standen zwei Nähtische, darauf lagen Leinen- und bunte Wollstickereien. Kein Zweifel, die beiden Frauen arbeiteten dieselben siir ein Geschäft. Wie kämen diese zierlichen Tischlünfer, das prachtvolle Rückenkissen, welche da der Vollendung harrten, sonst in diese ärmliche Wohnung?
Und doch fehlte es auch hier au Erfreulichem nicht: Ein Fuchsicnstock trug die Fülle der blutroten Blüten kaum, ein Myrtenbänmchen trieb weiße Knospen, und Senker von Geranien und Schiefblüttern schienen in ihren Töpfen unter der sorgenden Hand ihrer Pflegerin zu gedeihen.
„Sie wollen das Stübchen mieten? Wollen Sie fielst s gefälligst ansehen?" Das junge Mädchen öffnete mit matter Handbewegung die Thür, welche zu einem kleinen, reinlichen Nebenzimmer führte: Ein schmales Bett, ein Holztisch, eine
Waschgelegenheit, ein Schrank und drei Rohrstühle standen darin. „Es ist einfach."
„Und der Preis, wenn Sie mich mit beköstigten?" fragte Berthold.
Mutter und Tochter sahen sich zweifelnd an.
„Wir haben — wir vermieten znm erstenmal. Obgleich die Tafel unteu hängt, haben wir uns das eigentlich noch gar nicht recht überlegt. Es käme darauf an. — Mehr wie zweimal Fleisch in der Woche-"
„O, das genügt. Bei meinem Schneider, wo ich als Schüler in Pension war, habe ich oft in vierzehn Tagen kaum ein Stück gesehen. Gab es einmal welches, so mußte ein Pfund siir sechs Personen langen."
Über Christas Züge flog ein erheiterndes Lächeln, welches zugleich ihr weuig hübsches Gesicht verschönte. „Dann sind Sie also nicht verwöhnt?"
„Nein. Womit auch?" Das klang ohne jede Bitterkeit.
„Das wäre uns sehr lieb," schaltete Frau Dobeneck ein, welche die Leitung der Verhandlung ihrer Tochter überlassen hatte, deren Gesicht jetzt wieder einen heiteren Ausdruck zeigte.
„Gleich und gleich gesellt sich gut zusammen. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Herr — —"
„Berthold Stein ist mein Name."
„Herr Stein. Nehmen Sie das Zimmerchen, wir geben Heizung, Licht und Wüsche dazu, besorgen auch ihre Leibwäsche, und Sie zahlen den vierten Teil der Wohnung, und ihren Anteil an Kost berechne ich Jhiren am Schluß jeder Woche."