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Deutschland.
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sich allznwvhl im begrenzten Heim. So hatte es fast dreißig Lebensjahre hinter sich, als ich diesen Herbst, bei einem Bestich in der alten Heimat, ihm wieder gegenüberstand.
Das Hänschen in der Engstraße war noch dasselbe, nnr die Kinder waren Leute, die Eltern waren alt geworden. Wie entsetzlich bescheiden schien mir jetzt die schmale Treppe, der blaugestrichene Flur. Auch der Garten mit dem Rebengang, der ^spitzsteinig gepflasterte Hof mit der Kehrichtgrube unter Sophiechens Fenster, über der Nur als Kinder so oft ein- und ansgestiegen waren, hatten sich nicht geändert. Die Zimmer waren leer. Bei dem schönen Wetter war Wohl trotz der Morgenstunde alles ausgeflogen. Da ich in der Küche Geräusch vernahm, wollte ich der Köchin — Diener und Jungfer waren längst den Weg alles Irdischen gegangen — meine Grüße anstragen. Ein Mädchen in einfachstem Kleid, mit großer Schürze, anfgekrempten Ärmeln und weißem Halstüchlcin stand eifrig beschäftigt, einen Berg eleganten Geschirrs zu spülen. Wir starrten uns verwundert an. „Sophiechen, Du —?"
„Mein Bruder Philipp hatte gestern ein Souper, da spül' ich nun die Teller," sagte sie erklärend.
„Und warum mußt Du selber dies thnn?"
„Wir haben seit einiger Zeit nur eine Auswärterin," erwiderte sie. „Ich vertrug mich, seit ich vor mehreren Jahren die alleinige Leitung des Haushalts übernommen, mit keinem von all diesen untüchtigen heutigen Dienstboten mehr, da koche und säubere ich nun seit vorigem Herbst lieber selber alles in der Küche. Und es ist auch viel billiger! Der Vater kann mir nur wenig Haushaltgeld monatlich geben, mit dem ich doch auskommen muß."
„Das alles thut die Tochter des Grafen Landau, Excel- lenz?" rief ich unwillkürlich. „Ich bewundere Dich."
„Es ist doch nur meine Pflicht," sagte sie einfach.
Und dann verabredeten wir den heutigen Spaziergang.
Ich hatte in den wenigen Tagen seit jenem Morgen viel vom „Sophiechen" gehört. Ganz K. sang seinen Ruhm, das Loblied dieses solidesten, tüchtigsten Mädchens der Stadt, das seiner vornehmen Geburt zum Trotz freiwillig feiner Familie Magddienste leistete, um den von den Eltern arg verfahrenen Haushalt, mit den acht unversorgten Töchtern und den zwei flotten Lieutenantssöhnen, vor dem Ruin zu retten; des Mädchens, das für sich freiwillig allen Gemässen der Welt entsagt, um in strengster Pflichterfüllung den Seinen zu dienen, sein Glück nicht, wie sonst die begehrliche Jugend, in Liebe oder Genuß oder Vergnügen zu suchen.
Und nun ging ich mit diesem Musterbild einer soliden, deutschen Jungfrau durch den goldrot glühenden Wald, in dessen Pfützen sich der Himmel spiegelte. Anfangs in gleichgültigstem Gespräch, schwiegen wir bald beide. Ich sah die schlanke Gestalt von der Seite an. Ihre Züge waren blasser geworden, die unsteten Augen weniger flackernd, und um die Lippen lag ein bitterer Zug. Aber sie kleidete sich noch gerade so billig — unvornehm wie einst. Du lieber Gott, wo hätte sie auch „Stil" lernen sollen, wenn er ihr nicht angeboren! Schon die beginnende alte Jungfer, dachte ich, das Verblühen eines un- gelebten Lebens. Und so ohne Liebe, ohne Schicksale, ohne andere Marksteine als die immer schneller wiederkehrenden Jahresringe am eigenen Lebensbanm, das köstliche Gut des Seins, der Befähigung znm Ringen nach großen, heiligen, flam
menden Zielen zu vergeuden, verdämmern, verlieren, — mir grauste.
„Ich Hab' es Dir schon lange erzählen wollen," begann da das Sophiechen gleichmütig, „Du kannst vielleicht daraus lernen, es einmal verwenden, und ich selber möchte mich auch aussprechen zu einem Menschen, der die Fähigkeit hat, alles zu verstehen. Mich, die Du hier wandeln siehst, als sprichwörtliches Urbild der Solidität, mich haben nnr Schuld und Vergehen dazu gebracht, mein Leben nun so ganz und gar der Familie zu opfern."
Ich lauschte fast erstarrt.
„Jahrelang," fuhr sie fast eintönig fort, „hatte ich ein Verhältnis mit einem Menschen, der sechs Jahre jünger war als ich. Es war Adolf T., der Gespiele meines älteren Bruders, der Sohn von meines Vaters einzigem Jugendfreund. Er kam eine Zeitlang fast täglich in unser Hans. Ich weiß nicht wodurch, aber ich entflammte des frühreifen Knaben Sinne. In der Dämmerung, beim Pfänderspiel, sing er an, mir verstohlen die Hand zu drücken, und einmal, als ich mit ihm ins Eßzimmer ging, ihm ein Glas Wein zu geben, da schlang er plötzlich seine Arme um mich uud Preßte seine Lippen auf die meinen. Ich war vierundzwanzig Jahre alt geworden, keiner hatte mir noch von Liebe gesprochen, keiner begehrlich meine Hand berührt. Und da kam dieser achtzehnjährige unreife Junge und nahm mich im Sturm. Er weckte eine Flut von verworrenen, beunruhigenden Gefühlen in mir, die mich nachts beseligt und doch verzweifelnd in meinen Kissen wach hielt. Und daun preßte er mich täglich beim Fortgehen, wenn ich allein ihm hinableuchtete, in seine Arme und drückte mich an sich, daß mir fast die Sinne schwanden. — Ich lebte wie in einem Taumel. — Eines Abends sagte er mir, daß er des Nachts in den Garten kommen würde, mich allein zu sprechen. Ich kam nicht, aber ich lag fieberschauernd auf meinem Lager und hörte ihn um Mitternacht behutsam über die Mauer klimmen. Stunde auf Stunde verrann. Dann vernahm ich ein leises Pochen am Fenster — ich antwortete nicht. Als der Morgen graute, kletterte er über die Garteneinfasfung auf die stille Straße zurück. Anderen Tags aber sahen wir uns beide mit blassen Zügen, dunkelumrandeten Augen wieder. An der Hausthür, wohin ich schwach genug war Adolf abermals zu begleiten, fiel er vor mir nieder und umklammerte weinend meine Kniee. Und dann fragte er plötzlich, wann endlich ich ganz die Seine würde. Anfangs verstand ich ihn falsch, dann aber, meiner selbst kaum mächtig — man hatte von drinnen nach mir gerufen und er lag immer noch auf den Steinfliesen vor mir flüsterte ich: «Heute in drei Monaten» und eilte zurück. Andern Tags kam der seltsame Knabe nicht wieder. Er schrieb meinem Bruder, daß er eine Reise angetreten, die ihn eirca drei Monate lang von K. fernhalten würde. Sein Vater konnte ihm das gewähren, er war sehr reich. Ich hörte einmal, wie er mit dem meinen über den Leichtsinn, die Vergnügungssucht und den Hang zur Verschwendung bei seinem Adolf sprach, den Wunsch daran knüpfend, er möge bald durch eine standesgemäße Neigung genügend gefesselt werden, um freiwillig ins Ehejoch zu gehen. Dann könne eine vernünftige und besonnene Frau alles aus ihm machen, denn sein Herz sei gut. — Ich weiß nicht, ob Baron llä in diesem Moment daran dachte, daß sein Freund selber acht unversorgte Töchter zu vergeben habe und sich aller