Heft 
(1889) 48
Seite
770
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Seite 770.

Deutschland.

48.

Wesen der Persönlichkeit davon bedingt wird, wie der tiefste, einfachste Urapparat in ihm fnngiert, und sich eine rein phy­siologische Disposition solchermaßen in den subtilsten, flüchtig­sten Lebensüußerungen der Seele bemerkbar macht.

Man weiß nicht viel davon. In früheren Zeiten, als man ein individuelles Seelenleben durch eine geometrische Figur, oder unter dem Bilde eines Schranks mit seinen Fächern und Schiebladen veranschaulichen zu können glaubte, meinte man, daß es die Schönheit sei, die Mann und Weib zu einander ziehe; und in Übereinstimmung mit dieser Auffassung glaubte der Dichter, ein Liebesverhältnis hinreichend motiviert zu haben, wenn er einen Mann und ein Weib nach gewissen abstrakten Schöuheitsmodellen schilderte. In unserer Zeit, der Zeit der zusammengesetzten und verwickelten Seelenregungen, hat man das Zutrauen zu dieser Erklärungsart ganz verloren; zunächst und vor allem giebt es keinen absoluten und allgemeinen Schön­heitstypus mehr, und demnächst ist es nicht die Schönheit, die der einzige, oder bloß der hauptsächliche Faktor ist.

.... Die Tage gingen, und der junge Mann fühlte, wie ihn die Atmosphäre des jungen Mädchens mehr und mehr umspann und an sich sog. Ein Strom physischer Gesundheit ging von ihr aus und hüllte ihn ein wie mit dem warmen Hauch der eben umgebrochenen Ackerkrume. Sie that ihm wohl, wo er sie sah; ihre hochgewachsene Gestalt, die gesunde Gesichtsfarbe, die klaren, blauen Augen, das reiche, blonde Haar, die frischen Zähne, auf deren unverminderte Zweiuud- dreißigzahl er schwören wollte; er liebte das alles an ihr und sie in allem; er liebte in ihr den Typus ohne Nuancen, die Abrundung des Charakters, die auf Begrenzung ruht, das ideale Alltagsweib, dessen Seelenschwingungen weder gedrängt, noch hastig, noch groß sind, und um welches ein normales Leben sich von selbst in natürliche Falten legen würde ... er liebte in ihr, was er nicht war und nicht zu leben verstand, das Alltagsdasein mit seiner beruhigenden Einförmigkeit, und er­fühlte, wie um ihn die Kreise, mit denen ihn das alles ein- spanu, enger und enger wurden; er fühlte es unbewußt, undeut­lich, mit einer unklaren Empfindung, halb Wohlsein, halb Be­klemmung, wie man einen beginnenden Alpdruck im festen Schlaf empfindet.

Und sie, das große, starke Mädchen, hatte damit ange- faugeu, das Kind in ihm zu lieben; sie liebte ihre eigene Stärke in seinem weichen Mund, in seinen traurigen Augen, in seiner warmweichen Empfindlichkeit, in seiner aufflammenden Hitze und seinem sich in sich zusammenziehenden Mißmut. Das mütter­liche Überlegenheitsgefühl ihrer positiven Natur waren die Treppenstufen, die sie in das Allerheiligste der Liebe führten; und in das Mitleid der Mutter, die Eifersucht der Mutter, die Zärtlichkeit der Mutter mischte sich ein Gefühl von Sicher­heit, als ob sie das, was sich zögernd vor ihr erschloß, schon besaß und sie sich vor ihrer Umgebung dazu bekennen könnte als zu ihrem rechtmäßigen Eigentum.

IV.

Björkman kam täglich in das Haus des Doktors, und es war fast täglich dasselbe Steigen und Fallen in seiner Seele ein Schwellen des Verlangens, wenn er sie sah, dazwischen eine flüchtige Ernüchterung bei einzelnen Blicken, Worten, Mie­nen von ihr oder ihrer Familie, und wenn er allein war eine abkühlende Mattheit, ein Gefühl von Leere, in dem etwas

flüsterte und sich regte und nicht vernehmbar wurde und auf das er lauschte, ein Ziehen, das nicht ungeteilt war, zwischen das sich etwas schob, wie eine ahwehrende Hand.

Aber Sigrid konnte lange Minuten sitzen, mit gesenkten Augenlidern und abgewandtem Kopf, und sich gebadet fühlen von seinen Blicken; sie fühlte daun nicht, wo sie war, Minuten und Stunden schmolzen ineinander, sie zitterte unter seinem Blick, wie eine Blume, die im Begriff ist sich zu erschließen unter der Morgensonue. Zu anderer Zeit waren die Rollen vertauscht; unbemerkt von ihm selbst und unbemerkt von allen anderen ließ sie ihre Augen auf ihm ruhen, seine leisesten Ge­bärden beobachten, dem Mienenspiel seines Gesichts in allen seinen Wechseln folgen; und es war ihr, als käme sie ihm dadurch so berauschend nahe, als säße sie in seinem Arbeits­zimmer, blickte in seine Schubladen, blätterte in seinen Papieren, und als Hütte er sich iu einer liebenden Stunde ihr zu eigen gegeben. Dasselbe Gefühl hatte sie, wenn ihre Namen zu­sammen genannt und gleichsam ineinander geflochten wurden, oder wenn sie nahe in einer Gruppe beisammen standen, zwei, ein Paar, das zusammengehört und etwas Ganzes für sich bildet, und bei tausend ähnlichen Zufälligkeiten. Sie wußte halbwegs, daß das kindisch war; aber sie fühlte sich glücklich dabei und hoffnungsvoll und warm bis in die Seele.

Die Jugend aus dem Doktorhause und dem Pastorat war eines Tages bei einer bekannten Familie, die ein paar Meilen landeinwärts wohnte, zu Besuch gewesen. Sigrids beide Schwe­stern sollten dableiben, und als die Rückfahrt in der Nacht von den übrigen angetreten werden sollte, entstand die Frage, wie mau sich am besten iu den beiden Wagen unterbrächte.

Ich schlage vor," sagte der junge Bergdahl zu den bei­den Fräulein Holm, während er mit spöttisch neckender Miene seinen Kneifer auf die Nase drückte,daß wir drei zusammen in dem einen Wagen fahren und Sigrid und Herrn Björkman den andern überlassen. Mau soll seinen Nebeumenscheu Gutes thun nach Vermögen."

Das war die erste Andeutung - man ahnte ein Ver­hältnis zwischen ihnen und es sing an öffentlich zu werden; etwas schrie iu ihr vor Freude, und ihre Seele streckte sich dem jungen Mann entgegen, wie zu einer Umarmung. Sie stiegen ein, der Wagen fnhr in die Nacht hinaus auf dem holprigen Wege, schwankend und ungleich; dann und wann gab es einen Stoß, der sie gegeneinander warf.

Giebt es eine magnetische Kraft der Seelen, fühlte der junge Manu, wie er da dicht an ihrer Seite saß, die zucken­den zitternden Fibern ihrer Seele sich an seiner eigenen fest- saUgen? Oder war es bloß die Versuchung der Sommernacht, der Hellen, nordischen Sommernacht, wo die ganze Natur sehn­suchtskrank scheint im warmen Mondschein, und es so seltsam in den Wäldern flüstert, als stünden tausend Brautbetteu da­rinnen bereit, und die Menschen ein uubezwingliches Verlangen zu lieben und geliebt zu werden ergreift, das doppelt heftig ist, weil sie wissen, daß dieser Hellen Sommernächte so wenige sind und daß sie eilen müssen, ehe der Herbst kommt, und daß sie Vorrat der Erinnerungen sammeln müssen für den langen Winter? Genug, als der Wagen aus einem mondbeschieneneu Dorfflecken, wo es so hell war, wie mitten am Tage, plötzlich iu einen schattigen Buchenwald fuhr, wo es so dunkel war, wie eine Herbstnacht, während die Hufschlüge den dumpfen