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Deutschland.
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Es war stets die Frau des Handwerkers oder Destillateurs, der in dem Hause, das ihr neuer „Herr" bezog, die Pförtnersoder Viecwirtsstelle versah. Die früheren „besten Freundinnen" sah sie selten wieder, dachte kaum an sie. Ihr Gedächtnis hatte ebensowenig Erinnerungen, wie ihr Herz oder ihre Sinne.
Bei Frau Ahrend lernte Fräulein Dorothea Töpfer einen alten Freund des Vieewirts, einen Handlungsgehilfen, Namens Hermann Steinert, kennen. Herr Steinert, ein Witwer von etwa vierzig Jahren, schien großen Gefallen an den massiven Formen Dorotheas zu finden; er hatte sich neben sie gesetzt und versuchte fortwährend, ihr in den Arm zu kneifen. Sie sprach dann mit ihrer fetten monotonen Stimme geflissentlich zu Frau Ahreud hinüber, und wenn er einen Angriff versuchte, zog sie ihren Arm in die schwerfällig zurückknickende Hüftbeuge hinein und sagte, ihn gleichgültig anblickend: „Aber Sie!"
Das bedeutete bei ihr einen seltenen Grad von Aufgeräumtheit. Im späteren Verlauf des Abends ließ sie sich sogar herbei, sich Schulter an Schulter neben Herrn Steinert zu stellen, um mit ihm gemessen zu werden. Sie war etwa einen halben Zoll größer als er. Darüber geriet das dünne Männchen völlig außer sich.
„Ein Staatsweib!" rief er, „ein forsches Frauenzimmer! Ich hab's gleich gesagt — nicht, Tante Ahrend? Quablich wie 'ne Pute und der reine Grenadier!"
Von nun an wurde er noch zudringlicher und schließlich unanständig. Fräulein Dorothea war beleidigt und ging. Während Frau Ahrend ihr das Geleit gab und beruhigend sagte: „Nehmen Sie es ihm man nicht übel, er is mal so'n verliebter Stint" — brummte ihr Gatte, Ahreud, Hermanns alter Freund: „Dummzeug, zu ville Glühwein hat er getrunken.
Sonst is er ja der reene Duckmäuser."
In den nächsten Wochen sah Fräulein Dorothea den Herrn Steinert bei Ahrends mehrmals wieder. Er benahm sich jetzt stets zurückhaltend und achtungsvoll, mit einer ungeschickten Feierlichkeit. Eines Tages sagte ihr Frau Ahreud: „Hören Se mal, Fräulein, der Steinert hat Absichten. Sie gefallen ihm. Nu ja — warum denn auch nich? Sie sind eine statiöse Person, über die erste Jugend raus — aber das giebt einem so was Solides — und sehr reputierlich. Na, er is ja auch nich der Jüngste, die vierzig hat er wohl schon, und ein Kind dazu. Sie hat ihm 'n bisken kurz gehalten, was seine erste war, — da wird er bei Ihnen das reine Himmelreich haben. Dafür sind die Männer denn dankbar — das is immer so bei die zweite. Ich bin ja auch seine zweite. Na, und ick kann nich klagen. Und ein gutes Einkommen hat er,
und ordentlich is er so weit ja. Na, was sagen
Sie?"
Fräulein Dorothea überlegte, d. h. sie rechnete. Zwei Sparkassenbücher verdoppeln den „Schatz," der Steinert scheint ja solid zu sein, er ist gesund, er kann also noch lange arbeiten und was Hübsches zurücklegen. Der Vorschlag gefiel ihr. Aber ihr Herz schlug nicht einen Augenblick schneller unter ihrem weitläufigen Busen.
Herr Steinert wußte, daß Fräulein Dorothea einige Ersparnisse besäße. Das kleine dünne Männchen mit der großen Hakennase, der trockenen, gelblichen, wie gegerbtes Leder aussehenden Gesichtshant und den ewig unruhigen Spüraugeu,
dachte mit dem apathischen Weibe machen zu können, was ihm beliebte. Man trat also in Unterhandlungen. Zuerst wollte Fräulein Dorothea wissen, was er verdiente. 2400 Mark jährliches Gehalt und reichlich 600 Mark Nebeneinnahmen. Das erschien ihr verführerisch, und als Herr Hermann nun förmlich um ihre Haud anhielt, willigte sie ein, ein bißchen zimperlich zwar und mit niedergeschlagenen Augen, wie es sich für eine Jungfrau von sechsunddreißig Jahren ziemt. Er war so zufrieden mit seinem Erfolge, daß er am nächsten Tage Frau Ahrend, um sie für ihre Vermittelungsdienste zu belohnen, ein halbes Pfund Thee in einer schlechten japanischen Büchse, beides aus seinem Laden, zum Geschenk machte.
Herr Steinert wollte sofort zu Zärtlichkeiten übergehen. Aber Fräulein Dorothea wies ihn ruhig, doch bestimmt zurück. Sowohl ihre Klugheit wie ihre altjüngferliche Züchtigkeit widersetzten sich seinen handgreiflichen Späßen. Auch in ihrer Behausung wollte sie ihn nicht empfangen. „Das schicke sich nicht für sie," sagte sie, „und noch weniger für ihren Herrn," dessen Hochzeitsgeschenk sie überdies durch eiue Inkorrektheit zu schmälern fürchtete. So sahen sich die beiden Verlobten ein paarmal bei Frau Ahrend, und dann, zum ersteumal allein, eines Nachmittags im Tiergarten.
Es war herrliches Maiwetter. Am Himmel reines krystall- nes Blau, und in dessen Mitte eine strahlende Sonne, welche Wogen von Licht herniederregnete. Die durchwärmte, frische Luft goß wohliges Leben den Menschen mit jedem Atemzuge durch die Aderu uud verbreitete die üppige Freude erneuten Wachsens über die Erde. Der Tiergarten kleidete sich in das zarte Frühlingsgrün, welches den Augen so wohl thut mit jenem weichen rötlichen Schimmer, der wie eine kleine Glorie aus den durchscheinenden Blättchen herauszufließen scheint. Der scharfe dünne Schatten der keck sich belaubenden Bäume mit den vielen und großen Lichtsprenkeln darin zitterte und tanzte auf den Wegen, als neckte er sich mit den Füßen der wandelnden Menschen. In der Bellevue-Allee schienen die höheren Bäume den schlanken Laubdom bereits schließen zu wollen; unten am Fuß wucherten in giftigerem Grün Schellkraut und Wolfsmilch, dazwischen die gelben Blüten wie zierliche Nägel des Laubsofas blinkten. Die Eichhörnchen rannten, von der schrecklichen, wollüstigen Lenznot gehetzt, die Stämme der Bäume herauf und herab, die Vögel zwitscherten wie toll durcheinander, und einzelne Menschenpaare gingen leise flüsternd oder laut lachend durch die Allee spazieren, die Augen voll Zärtlichkeit oder übermütigen Glanzes.
Hermann und Dorothea setzten sich stumm auf eiue Bank. Eine Weile lang blickten sie schweigend auf ein verwildertes Taubenpaar, das unweit von ihnen auf dem Rasen trippelte, das Männchen schiefergrau, mit einem grünschillernden Kropf, den es mit Wohlbehagen aufblies, das Weibchen von hermelinartiger Weiße, auf zierlichen Zehen wie auf Korallenschnüren einherstelzend und die glänzend weißen Schwanzfedern wie eine Schleppe über den Boden ausspreitend.
„Sehen Sie mal, Herr Steinert, wie nett die sind," sagte Dorothea, „ach, die lieben Tierchen!"
„Ja," antwortete Hermann, „die reinen Verliebten." Er sagte es zerstreut, etwas anderes beschäftigte ihn. Ein neues Stillschweigen entstand, währenddessen Dorothea verlegen in den Sand sah. Mit einem plötzlichen Entschluß sprach er deu