REZENSIONEN
Hertling, Gunter H.: Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen".
Die .Erste Seite' als Schlüssel zum Werk. — New York u. a.: Lang 1985. 70 S. (Germanic Studies in America; 54)
(Rez.: Joachim Biener, Leipzig)
Aus dem künstlerischen Schaffen Fontanes hebt sich der Roman „Irrungen, Wirrungen" neben „Effi Briest" immer stärker als Hauptwerk heraus.
Mit Hans-Heinrich Reuter stimmte der Rezensent bereits in den fünfziger Jahren voll in der Bewunderung dieses Berliner Romans überein. Diese Übereinstimmung galt auch dem Erlebnis der zutiefst tragischen Wirkung des Werkes. So bezeichnete Reuter „Irrungen, Wirrungen" wiederholt als „erschütterndste Liebeserzählung Theodor Fontanes, die zum Ergreifendsten in der deutschen Erzählkunst" 1 gehöre. Dietrich Sommer widmete später dem Roman um Botho und Lene den folgenden Superlativ, der die tragische Wirkung erklärt: „In .Irrungen, Wirrungen' hat Fontane in einer für die deutsche Literatur des 19. Jh. beispiellosen Weise den prinzipiell unlösbaren Widerspruch von Selbstverwirklichung und Selbstentfremdung des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft dargestellt." 2 Der Roman wurde als kritisches Entfremdungsmodell des Autors gewertet.
Der Verfasser dieser Zeilen analysierte 1969 das wendepunktartige 14. Kapitel des Romans im Hinblick auf die Gestaltung des Menschenbildes und der Inhalt-Form-Dialektik 2 . Bei dieser hervorhebenden Wertung konnten wir uns auf unterschiedliche Literaturwissenschaftler berufen, so u. a. auf die Positionen von Conrad Wandrey, Georg Lukacs und Walter Killy. Wandrey hob an „Irrungen, Wirrungen" besonders die seelisch-menschliche Substanz her- vor'', Lukacs den romanhaften Charakter und die moralische Überlegenheit der plebejischen Figuren 5 und Killy die ästhetische Ökonomie.' 1 Auch Wandrey und Killy trugen durch ihre Wertungen zu einer höheren Einschätzung des Werkes innerhalb des Romanschaffens Fontanes bei.
Seit 1980 lenken auch die „Fontane-Blätter" verstärkt die Aufmerksamkeit auf „Irrungen, Wirrungen". So setzte sich E. M. Volkov (Ivanovo) im Heft 31/1980 vor allem mit der „elegischen Tonalität" des Romans auseinander, nachdem er bereits im Heft 24/1976 über „Effi Briest" geschrieben hatte. Im Heft 33/1982 wandte sich Christian Grawe (Melbourne) gegen die Ansicht, daß Käthe von Sellenthin eine Karikatur sei und wies ihre Gestaltung als eine vollwertige, runde, sich entwickelnde epische Figur nach.
Das Heft 37/1984 brachte unter der Rubrik „Werk — Diskussion, Werk — Interpretation" gleich zwei Beiträge über „Irrungen, Wirrungen": das Vorwort G. Bevilacquas (Mailand) zu einer populären italienischen Ausgabe des Romans und die Ausführungen von D. Bowman (Edinburgh) über „Aspekte von Liebe und sexueller Gier in Fontanes Roman .Irrungen, Wirrungen'". Auch das Heft 39/1985 machte den Leser mit zwei Aufsätzen über dieses Werk
101