Voss, Lieselotte: Literarische Präfiguration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane. Zur Zitatstruktur seines Romanwerks. — München: Fink 1985. 321 S.
(Rez.: Volker Giel, Leipzig)
Wer kennte es nicht, wer hätte es nicht schon in literarischen Analysen und Interpretationen als Deutungshilfe oder zumindest interessanten Hinweis am Rande genutzt? Ein plötzlich in einem literarischen Text er- oder aufscheinendes Zitat. Doch über die Behandlung als ein eher zufälliges oder beiläufiges Phänomen, als mehr oder minder bedeutungstragendes Detail führt die Betrachtung dabei in den meisten Fällen kaum hinaus. Vertane Möglichkeiten?
„ .. . wer hat jetzt Lust und Fähigkeit, auf die hundert un'd, ich kann dreist sagen, auf die tausend Finessen zu achten, die ich dieser besonders von mir geliebten Arbeit mit auf den Lebensweg gegeben habe." (Fontane an Emil Dominik über „Irrungen, Wirrungen", Brief v. 14. 7. 1887.) Dieses von Lieselotte Voss dem „Irrungen, Wirrungen"-Kapitel ihres Buches vorangestellte Fontane-Zitat könnte für sie selbst so etwas wie die Rolle eines Schlüsselzitats gespielt haben. Sie jedenfalls nimmt diese Äu5erung wirklich ernst, Fontane sozusagen beim Wort, und zwar konkret im Hinblick darauf, ob sich hinter den „tausend Finessen", den offenen und verdeckten Anspielungen, Zitaten nicht doch mehr verbirgt, als auf einen ersten und zufälligen Blick angenommen, nämlich ein spezifisches Moment der künstlerischen Methode Fontanes. Schon die prägnante Kurzformel des Titels „Literarische Präfiguration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane. Zur Zitatstruktur seines Romanwerks" verweist in nuce auf Thema wie auch Ergebnis des Buches. L. V., vor allem den Anregungen des auf dem Gebiet der Zitatforschung bahnbrechenden und richtungsweisenden Buches Hermann Meyers 1 , aber auch kleineren Untersuchungen wie etwa J. Ernsts, K. Wölfeis und H. Schlaffers 2 folgend, konzentriert sich methodisch voll und ganz auf den wohl in dem gewählten thematischen Zusammenhang einzig wirklich fruchtbringenden Ansatz einer Strukturanalyse des Zitatverfahrens bei Fontane. Genauer: Die Autorin geht über die Teilschritte Zitatfindung, Erläuterung, Bestimmung bzw. Kategorisierung gezielt der Frage der Funktionalität des Zitats im Textganzen nach. D. h„ die aufgefundenen Zitate werden immer in ihrem kontextualen Zusammenhang überprüft und auf ihre strukturelle Leistung und sinnkonstituierende Wertigkeit untersucht, um von daher dann auch zu neuartigen Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten der jeweiligen Romane vorzustofjen. (Vgl. S. 13) Das Anliegen der Arbeit besteht also mitnichten etwa in einer blofjep faktologisch- positivistischen Materialaufbereitung, sondern zielt unmittelbar auf Typolo- gisches und Poetologisches, auf die künstlerische Methode des Romanciers Fontane.
Der von der Verfasserin zugrunde gelegte Zitatbegriff ist bei der genannten Zielstellung verständlicherweise recht weit gefa5t, liegt aber durchaus im Bereich des bisher wissenschaftlich abgesteckten Rahmens. Als Zitate werden so nicht nur „das im direkten Wortlaut der Quelle im Roman erscheinende" oder „halbwörtliche Zitat" verstanden, sondern vor allem auch „das Identifi-
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