»Stine" den entscheidenden Schritt hin zur Form des Berliner Gesellschaftsromans, mit der er auf charakteristische Art teil hat »an der Weltliteratur des Realismus" (S. 138).
Den zweiten Schwerpunkt bildet die Frage nach der Gesellschaftskritik Fontanes. Daß dieser Autor heute gewissermaßen als »preußischer Gesellschaftskritiker vom Dienst" (S. 142) gelesen wird, darüber besteht längst allgemeiner Konsens. Wie dies aber tatsächlich in der poetischen Fiktion des Eizählwerks seine Umsetzung findet, darüber wird vielfach in nur recht unzulässiger Weise Rechenschaft abgelegt, sei es durch kurzschlüssige Analogien mit außerliterarischen Aussagen des Journalisten oder Briefschreibers Fontane oder durch andere konstruierte bzw. aufgesetzte Behauptungen. Auch hier vermag es Demetz, einige klärende Konturen sichtbar zu machen. Über die Analyse des Figurenensembles in »Stine", welches wie in den anderen Romanen und Erzählungen Fontanes soziologisch die Spannweite zwischen allerdings ,von unten' bedrohtem Kleinbürgertum und Adel nicht überschreitet, zeigt Demetz, wie gerade aus der Anlage und Konstellation der Figuren »in Analogie und Widerspruch" (S. 143), ihrem „gemischte(n) Charakter" eine Aussage erwächst, die „stereotypischen Erwartungen' (S. 145) geradezu entgegensteht. Widersprüchliches tut sich auf : . wer hofft, es wären die ,Volks'-Figuren, die aus dem
Bewußtsein kommender gesellschaftlicher Veränderungen sprächen (während die Adeligen knöchern und dumpf in der Verteidigung des Abgelebten verharrten), wird grundsätzlich enttäuscht. Die Pittelkow und Stine frönen einem gesellschaftlichen Fatalismus, und es sind die Adeligen, die an der Endgültigkeit aller Rangordnungen zu zweifeln beginnen oder, wie Waldemar, von radikalen Revisionen träumen" (S. 145). So offenbart sich die Gesellschaftskritik Fontanes für Demetz nicht etwa in einzelnen Äußerungen und Ereignissen oder soziologischen Fakten. Sie ist vielmehr universeller und künstlerischer Natur zugleich. Ihr Kern zeigt sich darin, wie „arrangiert" (S. 143) wird, wie sich die Charaktere in Beziehung auf Geschehnisse und davon berührte Personen verhalten.
Menschliche Beziehungen werden von Fontane im Kontext von Gesellschaftlichkeit problematisiert. »Stine und Waldemar leben leider nicht für sich allein, das können und dürfen sie nicht, und Fontane berichtet, was das an ihrem Ort und zu ihrer Zeit für Folgen hat, und wie die wesentlichen Züge der Gesellschaft, in der Antwort auf die Herausforderung, aus ihren Verhüllungen schärfer hervortreten." (S. 140 f.) Handlung geht solcherart wesentlich in Charakter bzw. in der Bewegung der Charaktere auf, was sich wiederum — und hier schließt sich der Kreis zum vorhergehenden Problemfeld der Erzählweise — entscheidend über das kommunikative Arrangement, das Gespräch vermittelt. Wenn Demetz damit die Frage nach der Gesellschaftskritik des Poeten Fontane auch noch nicht völlig hinreichend zu beantworten vermag, sein eingeschlagener Weg, über das Aufdecken ästhetischer Strukturen voranzukommen, führt in die richüge Richtung.
Von diesen Positionen aus gelingt es Demetz schließlich auch, das zu klären, was sonst bei Fontane oft nur schwer gelingen will, die Genrebestimmung „Stines" als Novelle. Waldemar und vor allem Stine, selbst gegen die Skepsis ihres Autors, in Schutz nehmend (s. o.), fixiert Demetz den novellistischen
112