Heft 
(1988) 45
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können, sondern die verzweifelte Ordnung darin, die Dialektik, der Doktri­narismus, der fanatische Belehrungstrieb, das fanatische Verlangen dem Andern zu einem richtigeren oder richtiger ausgedrückt zu dem einzig richtigen Standpunkt zu verhelfen. Der Sprechanismus hat immer ein Müssen, er ist nicht zum Spaß da, er arbeitet beständig an Aufklärung, an Prinzipiensieg. .. . Unter allen Tugenden steht ihm eine am fernsten: Bescheidenheit." 9

Fontanes Kritik an Berlin, an Zuständen in dieser Stadt, am Alltagsverhalten seiner Bürger, ihre Neigung zu Großsprecherei, Selbstüberschätzung und Impo­niergehabe ist freundschaftlich, ja liebevoll, nach dem Motto, das auch hier lautet: »Tout comprendre, c'est tout pardonner." Und er richtet in dem Text »Wie man in Berlin so lebt" an die kritisierten Spreeathener die versöhnlich, ja fast entschuldigend klingenden Sätze: , ... ich will hier auf die Mängel hin- weisen, nicht aus kindischer Tadelsucht sondern aus einem patriotischen Gefühl. (Über der Zeile: Wers nicht glaubt, der läßt es.) Ich bin ein guter Ber­liner, Preuße, Deutscher und einige halten mich für geeicht in diesem Punkte; nichts ist mir widriger als ewiges Mäkeln und Besserwissenwollen, alles blos aus Ueberheblichkeit und Wichtigthuerei." Und mit einer Verbeugung stellt er fest: »Berlin ist eine proppre Stadt und es giebt viele Fremde die, weil unbefangen, immer das bessere Urtheil haben die das Berliner Leben dem Leben in andren Großstädten vorziehen. Wenn ich solchen Stimmen begegne, schlägt mir das Herz höher und ich freue mich dann Stimmen gegen mich selber sammeln zu können." 10

Fontane, der in Berlin einen Teil seiner Schulbildung erwarb, die Apotheker­lehre abschloß und tastend nach einem ihm gemäßen Beruf mit gesicherter bürgerlicher Existenz suchend seine Fähigkeiten als Dichter auslotete, wurde nach seinem dritten England-Aufenthalt 1859 an der Spree endgültig seßhaft. Die Stadt, ihre Menschen und sozialen Verhältnisse boten sich ihm, dem Reporter und Kritiker, in widerspruchsvoller Einheit als Gegenstand von Beob­achtung und Studium. Dabei kam er mit dem Berliner in engste Berührung, stets unter Anwendung der für ihn charakteristischen Schaffensmethode, »aus allem Honig zu saugen", wie er es als Selbstbekenntnis formulierte.

In seinen Alterswerken zeichnete Theodor Fontane den Berliner manchmal als Randfigur mit windigem Charakter, zumeist jedoch als tüchtigen, energischen, strebsamen und zuverlässigen Menschen, was 50 Jahre nach seinem Tode Heinrich Mann zu der Feststellung veranlaßte, Fontane habe in Deutschland »als erster wahrgemacht, daß ein Roman das gültige, bleibende Dokument einer Gesellschaft, eines Zeitalters sein kann; daß er soziale Kenntnis gestalten und vermitteln, Leben und Gegenwart bewahren kann noch in einer sehr ver­änderten Zukunft, wo, sagen wir, das Berlin von einst nicht mehr besteht". 11

Anmerkungen

1 Hans-Heinrich Reuter, Fontanes Realismus, in: Hans-Heinrich Reuter, Dichters Lande im Reich der Geschichte, Aufbau-Verlag Berlin 1983 S. 350.

2 .Der Berliner zweifelt immer", Feuilletons von damals vorgestellt von Heinz Knobloch Buthver- lag .Der Morgen" Berlin 1979.

3 Sonderdrude aus dem Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XXX/1986 S. 37.

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