Ohl, Hubert: Verantwortungsvolle Ungebundenheit. Thomas Mann und Fontane. — In: Thomas Mann 1875—1975. Vorträge in München, Zürich, Lübeck. Hrsg, von B. Bludau u. a. Frankfurt/M.: S. Fischer 1977, S. 331-347.
(Rez.: Joachim Biener, Leipzig)
Hubert Ohl hat in seinem Beitrag, der aus Anlaß von Thomas Manns 100. Geburtstag entstand, zweimal Grund zur Verwunderung. Zunächst drückt er die Überraschtheit aus, daß die Bekanntschaft trotz „überschneidender Zeitgenossenschaft" 1 einseitig geblieben ist. Die Ursache dafür, daß Fontane bei all seiner Aufgeschlossenheit für die Moderne den jungen Erzähler Thomas Mann sehr wahrscheinlich nicht wahrgenommen hat, sieht er einmal darin, daß Fontane als Kritiker vorwiegend auf das Drama als Hauptform zeitgenössischer deutscher Literatur orientiert war; zum anderen habe er offenbar das Schaffen von Erzählern seiner eigenen Generation, also Gottfried Kellers und Wilhelm Raabes, mit moderner deutscher Prosa gleichgesetzt.
Die zweite Überraschung ergibt sich aus der nach Ansicht Ohls bisher ungenügenden wissenschaftlichen Untersuchung der zwischen Thomas Mann und Theodor Fontane bestehenden literaturgeschichtlichen Konstellation. Im angefügten Exkurs heißt es darüber: „Die wissenschaftliche Literatur zum Thema Thomas Mann und Fontane ist erstaunlicherweise ziemlich schmal und zudem im ganzen nicht sehr ergiebig" 2 . Die Dissertationen von Karl Diedenhofen 2 und Ronald Schweizer' 1 erbrächten nur brauchbare Einzelbeobachtungen, hätten jedoch die Komplexität des Themas verfehlt. Auch Katharina Mommsen gelangte in ihrem Buch „Gesellschaftskritik bei Fontane und Thomas Mann""' im Kapitel „Fontane und Thomas Mann: Vergleichspunkte" „über die Aufzählung einiger Äußerlichkeiten nicht hinaus"**. 1971 habe sich gar für einen Sammelband „Thomas Mann und die Tradition" „für Thomas Manns .Lehrer' Fontane kein zuständiger Mitarbeiter .. . finden lassen" 7 .
Auf die Frage nach den Ursachen für dieses Forschungsdesiderat geht Ohl nicht ein. Sie ist nicht leicht und nicht eindeutig beantwortbar. In traditioneller Vernachlässigung der Romanform durch deutsche Literaturwissenschaft wurzelt die mangelnde Erschließung der Konstellation Thomas Mann — Fontane sicherlich nicht mehr. Auch Unterschätzung der deutschen Romantradition kann kaum der Grund sein. Wird vielleicht die Zäsur 1895/1900 als so einschneidend empfunden, daß man sich entweder nur mit Fontane oder nur mit Thomas Mann bzw. nur mit dem 19. oder dem 20. Jahrhundert beschäftigt und dadurch Sinn für Kontinuität verliert? Bei durchgehender literaturgeschichtlicher Behandlung, z. B. in der Lehre, kann sich andererseits die Beziehung zwischen Thomas Mann und Fontane als derartig gleitender Übergang erweisen, daß eine epochal-gliedernde Verfahrensweise zurücktritt. Um phasenhafter Betrachtungsweise doch zu entsprechen, empfiehlt es sich dann, beide Autoren in der diskontinuierlichen Kontinuität als Repräsentanten sehr unterschiedlicher Jahrzehnte darzustellen, was machbar und zugleich objektiv ist.
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