Was hat nun Hubert Ohl dem Defizit entgegenzusetzen? Er bemüht sich erfolgreich um Komplexität. Er sieht beide Autoren in großen Zügen in ihrer Entwicklung. Er konfrontiert diese Entwicklungen. Er stellt vor allem historisch bedingte Weiterführungen, Steigerungen und Zuspitzungen fest. Er räumt aber auch „gegenläufige Entwicklungstendenzen " 8 ein. Bezüge zu Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, die bisher übersehen wurden, werden hergestellt. Überzeugend sind ferner die Zusammenschau von signifikantem Detail und Allgemeinem und die gedrängte und zugleich geschmeidige sprachliche Form. Angesichts der Notwendigkeit und Lust zu wiederholter Lektüre möchte man fast von einer gewissen Gedichthaftigkeit und Poesienähe des Beitrages sprechen.
Ohl sieht also bei Thomas Mann im Vergleich zu Fontane im wesentlichen alles „gesteigert und radikalisiert, oft bis ins Extrem vorgetrieben" 9 . Das gilt auch für Inhaltliches, für Thematisches und Motivisches: Tony Buddenbrook und Makler Gosch als Weiterführungen von Effi Briest und Apotheker Gies- hübler; die Steigerung von Fontanes nicht humorlosem erzählerischem „Perspektivismus" zum ironischen „Relativismus" 10 ; die bei Thomas Mann zeitbedingte größere Schwierigkeit, humane Gestalten zu schaffen usw. Unsereiner könnte auch auf die Steigerung des Motivs der Kälte (von Schach von Wuthe- now zu Adrian Leverkühn) oder auf das Motiv des clownhaften, passiven Künstlers (von Hugo Großmann zu Christian Buddenbrook) verweisen.
Auch in der von Fontane entwickelten und vorgegebenen Romanform sieht Ohl nicht den Kern der literarischen Stafette. Die Frage nach Schöpfung bzw. Vollendung des deutschen Gesellschaftsromans sei sogar „der am wenigsten bedeutsame" Aspekt 11 . In dieser Hinsicht habe Thomas Mann vor allem in der russischen Literatur „gewichtigere Lehrmeister " 12 gehabt. Die eigentliche Erbschaft sei die Schreibweise, die Handschrift, der Stil. „Worin Fontane ihm (Th. Mann) indessen vorarbeitete, das war das Verfahren, die ,ernste Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit' (Erich Auerbach) zu verbinden mit einer höchst bewußt eingesetzten, oft allzu direkt gehandhabten, jedenfalls durchaus artifiziellen Symbol- und Zeichensprache .. ," l:l Als überzeugendes Anschauungsmaterial fügt Ohl an: Waldemar von Haldern, der kurz vor seinem Freitod, auf einer Parkbank sitzend, resigniert Halbkreise in den Sand zeichnet, und als Anknüpfung und symbolische Steigerung: Hanno Buddenbrooks Schlußstrich unter seinem Namen in der Familienchronik. „Nicht einzelne Erzählgegenstände sind es" also, „die Thomas Mann Fontane verdankt, sondern das überlegen gehandhabte Verfahren ihrer zugleich genauen und symbolisch gemeinten Darstellung — wie ihrer ironischen Brechung. In dem gesteigerten Zu-Ende-Führen dieses Kunstmittels eines zugleich detailbesessenen und konstruktiven Erzählens liegt Thomas Manns ,Fontane-Schülerschaft', die Richard Dehmel dem Anfänger und jungen Zeitgenossen des alten Fontane bescheinigt hatte" 14 .
Allerdings kann man die symbolisch-lyrisierende Erzählweise vom Streben nach gesellschaftlicher Verbreiterung und Vertiefung des Erzählens und nach der Romanform nicht trennen. Es ist eben damals ein spezifisch deutschbürgerlicher Weg, gesellschaftliche (bürgerliche) Verspätung literarisch zu überwinden, was auch durch diese Tendenzen bei Storni und Raabe bestätigt wird. Inzwischen ist nun heute - dies erlaubt sich der Rezensent einzuschal-
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