Wir haben uns bemüht, das Manuskript so original getreu wie möglich zu reproduzieren, sowohl was Orthographie als auch Interpunktion betrifft, selbst wenn es sich wahrscheinlich um Flüchtigkeitsfehler Fontanes handelt. Innerhalb des Textes gibt es etliche Streichungen, die noch leserlich sind und von uns in eckigen Klammern wiedergegeben werden. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Umformulierungen aus stilistischen Gründen, z. B. um Wiederholungen zu vermeiden, oder im Falle längerer Streichungen um Stellen, bei denen Fontane eine kritische Aussage zu mildern sucht, so daß der Ton durchweg zurückhaltend und ohne Polemik oder Besserwisserei bleibt. Wo er einen alternativen Ausdruck hinzugefügt hat, ohne das ursprüngliche Wort zu streichen, haben wir beide Varianten durch eine schräge Linie getrennt, wobei der ursprüngliche Ausdruck immer an erster Stelle steht. Übersetzungen aus dem Englischen im Kommentarteil und in den Anmerkungen sind von der Verfasserin.
II
Geehrte Versammlung.
Wir kommen heut ihrem Wunsch und meiner Zusage gemäß auf Henry Wadsworth Longfellow zurück, der in meiner 4ten Vorlesung, in der ich eine Parallele zwischen ihm und Alfred Tennyson zog, dem letztren äußerlich wie innerlich das Feld räumen mußte. Dies Zurückkommen auf den amerikanischen Dichter wird mir aber nur Gelegenheit (geben] bieten mein neulich abgegebenes Urtheil zu erweitern und zu motiviren; [und] die Grundanschauung wird bestehen bleiben, daß Longfellow ein zwar liebenswürdiger und höchst achtungswerther Dichter aber durchaus kein Original, keine genialisch-schöpferische Kraft sei, ein bloßes Talent das zu seinem Glück in Amerika das Licht der Welt erblickte und den besten Theil seines Ruhmes/Rufes nie erlangt haben würde, wenn es/er in Deutschland geboren worden wäre. Longfellow ist eine feine dichterische Natur, ist sinnig, gedankenreich, natürlich im Ausdruck, ein Meister in der Form; seine nicht wegzuleugnende literarische Bedeutung aber wurzelt viel mehr in einer langen Reihe zufälliger Umstände und Äußerlichkeiten, als in der Intensität seiner Gaben oder gar in der Selbständigkeit seiner [Natur] Anlage. Sein Hauptverdienst ist das, daß er die Schätze alt-europäischer Dichtung theils direkt durch Uebersetzungen, theils indirekt durch Adoptierung ihrer Klänge dem ziemlich unliterarischen Westen vermittelt hat. Dies Vermittlerwerk wie es seine Verdienste umschließt, erklärt auch seine großen Erfolge. Was er seiner Heimath brachte, war nicht neu in sich selbst, aber doch neu mit Rücksicht auf den Ort an dem es erschien und dieser Umstand schuf ihm einen Ruhm [zu dem er nur halbberechtigt] auf den er [freilich) nur halben Anspruch hatte und zu dem er wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, mehr als Importeur wie als Produzent berechtigt war. Die europäischen Literaturen, ganz besonders die deutsche, haben allerdings alle Ursach dem Manne dankbar zu sein, der sich aus ehrlichem Herzen und warmer Begeisterung heraus ihre Weltverbreitung hat so angelegen sein lassen, aber damit ist ihre Pflicht erschöpft. [Sie können ihre Dankbarkeit nicht bis zur Bewunderung treiben und vor dem bloßen Spiegelbild nicht Reverenzen machen, die wenn sie einmal gemacht werden sollen dem Original und nicht seinem Bilde gebühren] Die besten Longfellowschen Arbeiten sind ein Echo unsrer eignen Literatur und wie lieblich [es] dies Echo klingen mag, so können wir uns doch die simple Tatsache nicht verhehlen, daß der Widerhall, der Rückklang nicht da sein würde, wenn unsre Stimme nicht zuvor erklungen wäre.
28