Eh ich nun dazu übergehe die Arbeiten des Dichters [eingehender] zu besprechen, schick' ich noch einige Bemerkungen über sein äußres Leben voraus. Diese Notizen sind außerordentlich spärlich, weil wie es scheint keiner unsrer europäischen Touristen bisher an die Thür des amerikanischen Dichters gepocht und die Lebensweise desselben eingehender beschrieben hat. Er wurde 1807 in der Stadt Portland im Staate Maine, also im nordöstlichsten der Neu-England Staaten geboren und bekleidet seit 1836 die Stellung eines Professors der modernen Sprachen und Literatur am Harvard College in Cambridge, einer der [Universi- täts-] Hauptstädte des Staates [Süd-Carolina] Massachusetts. Das beste was wir von Longfellow wissen bezieht sich auf seine Reisen; seine eignen Bücher geben den besten Aufschluß hierüber. Vom Jahre 1826 bis 42, also in einem Zeitraum von 16 Jahren war er dreimal in Europa und verwandte auf diese Studienreisen fast volle 6 Jahre. Er studirte in Göttingen und Heidelberg und schloß sich an deutsches Leben und deutsche Wissenschaft mit entschiedener Vorliebe an. Aber er beschränkte weder seinen Aufenthalt noch seine Neigungen ausschließlich auf Deutschland und überall wohin [ihn seine Wanderungen führten] er kam neue Gegenstände für seine Liebe und seine Begeisterung findend, darf man von ihm sagen: er drückte das gesamte Alt-Europa an sein Herz. Eine durchaus romantisch angelegte Natur konnte er nur in der alten Welt Befriedigung finden und mußte sich von einem Treiben abwenden, das vielleicht überhaupt wenig poetische Seiten bietet sicherlich aber nichts bietet für eine Natur/Persönlichkeit, der drei alte [Schloß] Kastellruinen weit über die glänzenden Häuserreihn New Yorks und Philadelphias gehn und der die kleinste jener Sagen, wie sie in den alten Schlössern des Rheins und der Donau zu hunderten nisten, werthvoller dünkt als alle Jahrgänge der New Yorker Times oder des Herald von Boston und Baltimore. Longfellow nachdem er Nord- und Süd-Europa durchforscht hatte: Schweden, Norwegen, Dänemark und England, die Schweiz und Italien, Spanien und Frankreich, kehrte 1842, wie es scheint mit seiner Ernte ein für allemal fertig, nach Amerika zurück und hat seitdem, so viel ich weiß das alte Europa [seitdem] nicht wieder betreten. Seine besten Arbeiten sind seitdem entstanden : Kavanagh, Evangeline, Hiawatha, eine Fülle von Balladen und Liedern und neuerdings das liebliche Idyll „die Werbung des Miles Standish."
Wir wenden uns jetzt diesen seinen Arbeiten, überhaupt der Gesamtheit seines Schaffens zu. Wie es keine europäische Literatur giebt, die nicht auf die eine oder andre seiner Arbeiten einen unverkennbaren Einfluß geäußert hätte, so giebt es auch keine Dichtungsart, kein Genre das nicht von ihm versucht worden wäre. Drama, Epos, Idyll, Novelle, Erzählung, Ballade, Romanze, Lied, Tendenz- Gedicht (z. B. der Cyclus von Liedern über die Sklavenfrage) Epigramm und Xenien alles hat er versucht und nur den 3 bändigen Roman ist er bis jetzt der Welt noch schuldig geblieben. Ich betone dies gerecht-sein in allen Sätteln nicht ohne Absicht, denn es beweist, fast eben so sehr wie die wechselnde Anlehnung bald an diese bald an jene Literatur, den völlig eklektischen Charakter der Longfellowschen Muse. Die großen originalen Poeten haben fast immer nur eine Linie strikt inne gehalten; sie waren entweder Dramatiker oder Epiker, Romanschreiber oder lyrische Dichter und wenn sie ausnahmsweise ein Feld betraten das nicht ihr eignes und eigentlichstes war, so war es eine flüchtige Laune, ein Zufall oder aber ein Nachgeben dem Zwang und Drang äußrer Umstände gegenüber. Von dieser Regel existiren nur wenige Ausnahmen und selbst diese Ausnahmen sind mehr scheinbar als wirklich. Wer mit gleicher Lust und gleichem Talent heut eine Tragödie und über's Jahr einen komischen Roman zu
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