Heft 
(1989) 47
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nicht auf den Gedanken, die Lokalitäten selber zu besichtigen. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß John Banvards Mississippi-Diorama in Boston zu einem Zeitpunkt gezeigt wurde, als Longfellow gerade angefangen hatte, an Evangeline zu arbeiten. Eine fünf Kilometer lange Bilderserie erweckte im Zuschauer den Eindruck, als ob er den Fluß hinunterführe. Sonst schöpfte Longfellow fast immer aus literarischen Quellen, u. a. aus Charles Sealsfields Life in the New World. Den Stoff von Hiawatha entnahm er Schoolcrafts History, Condition, and Pro- spects of the Indian Tribes of the United States. Als das Gedicht erschien, gratu­lierte ihm Schoolcraft wegen der Authenzität seiner Schilderung. Was Fontane über den fehlenden Stempel der Originalität bei Longfellow sagt, stimmt weit­gehend. Interessant ist aber in Evangeline, daß in diesem erzviktorianischen Gedicht die Frau dem Manne nachläuft. The Courtship of Miles Standish (1858) hat als Hauptpersonen zwei Vorfahren des Dichters, John Alden und Priscilla Mullins. Er bezeichnete es alsEine Art puritanisches Pastoral"43 , und es ist das heitere Nebenprodukt seiner ernsthaften Materialsuche für ein religiöses Epos. Obwohl Fontane Longfellows nach wie vor berühmtestes Gedicht, Hiawatha, ver­hältnismäßig wenig Zeit widmet, bemerkt er jedoch das Wesentliche und wird dem Gedicht, das er in seinem Tennyson-Vortrag ungerechtfertigt alsCid"-An­lehnung abtut, am meisten noch durch das Zitieren mehrerer Stellen gerecht. Es scheint, daß er sich in den dazwischenliegenden Wochen besser informiert hat. Als das Gedicht herauskam, wurde der Ursprung der Versform nachhaltig dis­kutiert. William Howitt so wie Freiligrath erkannten seine finnische Abstammung. Die Form geht auf das finnische Epos Kalevala zurück. Longfellow behauptet aber, die Wiederholungen seien gleichfalls ein Merkmal der indianischen Dich­tung. Wegen seiner eigenartigen Versform ist das Gedicht vielfach parodiert worden. Longfellow selber hat die Parodie, die schon 1856 in der englischen Zeitschrift Punch erschien, sehr erheitert. Er beschreibt seinen Helden Hiawatha alseine Art amerikanischen Prometheus"4 4 . Ein anderer Kritiker fand, er hätte zu viel von einem christlichen Gentleman. Klar ist, daß das Gedicht dem Ge­schmack der Zeit entsprach. Ein idealisiertes, romantisches Bild vom Menschen wurde einer realistischen oder gar zeitkritischen Lebensschilderung vorgezogen.

Fontane hatte mit Longfellow eine frühe Liebe für die Ballade gemein; und wenn Longfellows Interesse durch seine Entdeckung der deutschen Volksliedersamm­lung Des Knaben Wunderhorn erweckt wurde, so erwachte umgekehrt Fontanes Interesse durch seine etwa zehn Jahre spätere Entdeckung der altenglischen und schottischen Balladen in den Sammlungen von Percy und Scott. Während Fontane der deutschen Ballade in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts durch seine Be­handlung zeitgenössischer Stoffe eine neue Richtung gab, hatte Longfellow schon in den vierziger Jahren Ähnliches geleistet47 Die von Fontane erwähnte Ballade .Das Skelett in der Rüstung' beruht, wie andere Balladen auch, auf einem Tages­ereignis, das aber als Vorwand für eine Wikingergeschichte dient, in der der Dichter eine poetische Erklärung für das Auffinden eines Gerippes mit Brust­harnisch im Rundturm zu Newport erfindet. Daß Fontane sich nur wenig Zeit für Longfellows Balladen und Lieder gelassen hat, ist am ehesten der Stoffülle seines Themas zuzuschreiben, wäre aber auch dadurch zu entschuldigen, daß viele dieser Gedichte seinen Zuhörern schon bekannt gewesen sein könnten. Schon 1851 schrieb Freiligrath,I'm happy to say, that my translation of .Excelsior' and my wife's of ,The Rainy Day' are also running through a large number of German Anthologies"' 1, und mit gerade diesen wohlbekannten Gedichten schließt Fontane seine Vorlesung: Eine Strategie, die wohl berechnet war, seine Zuhörer

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