Heft 
(1989) 47
Seite
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Unterhaltung mit der bettlägerischen Corinna über den seligen Schmolke und seine polizeiliche Mission ist des Romans schönste Stelle. Denn auch hier dringt durch dieSitte" das natürliche Gefühl.

P[aul) S[chlenther]"

Die Essenz von Schlenthers Rezension liegt in seiner Beobachtung, daß der Roman weder Figuren in den Mittelpunkt stellt, die absolute Wahrheiten noch solche, die absolute Unwahrheiten verkünden. Schlenther zeigt, wie problematisch es ist, eine ethische oder sozial-ethische Verbindlichkeit aus Frau Jenny Treibel her- auszulesen. Das hindert ihn aber nicht daran, die Symbiose von Gestaltung und Gesinnung auch hier als Norm gelten zu lassen. Bei Vetter Wedderkopp und der Witwe Schmolke findet der Rezensent diese Verbindung. Wenn die Figuren des Romans miteinander verglichen werden, zeigt sich nach Schlenthers Meinung, daß die ästhetisch gesehen gelungenste Darstellung auch die ethisch wertvollste sei. So betrachtet, rage besonders die Witwe Schmolke über alle anderen Figuren des Romans hervor. Im Zusammenhang mit dieser Bewertung der Romanfiguren steht die humorvoll relativierte Charakteristik Fontanes alsRoyaldemo­kraten" undOligodemokraten".

Die von Schlenther verwendeten Begriffe gehören zum allgemeinen kritischen Vokabular jener Zeit. Diese Kongruenz geht deutlich aus dem Vergleich seiner Rezension mit den Urteilen anderer Kritiker hervor. H. Fechner betont die Lebenswahrheit" und diehumoristische Darstellung ". 11 Auch in der Besprechung im Hannoverschen Courier taucht das WortLeben" auf. Der Rezensent lobt die Figuren des Romans, spricht dem Dichter eine liebevolle Behandlung seiner Figuren zu und akzentuiert außerdemdie Fülle von Humor und Gemüth ". 10 Alle anderen mir bekannten Besprechungen betonen die Ironie, den Humor und die Wahrheit des Romans. Die Königsberger Hartungsche Zeitung spricht von einem Protest gegen das Protzentum 11 , während Joseph Ettlinger den Roman darin tadelt, daß es an einem richtigen Mittelpunkt fehle . 12 Adolf Stern kon­statiert ebenfalls Humor und Lebensfrische. Er kritisiert jedoch als negative Erscheinungendie seltsame Mischung von innerer Kälte und boshafter Nachrede über den Nächsten ". 12

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß Frau Jenny Treibel in der lite­rarischen Kritik allgemein als realistisches Kunstwerk von hohem Rang angesehen wird. Fast alle Rezensenten würdigen Fontanes Humor und Ironie, die von Menschenliebe und Milde durchdrungen sind. In bezug auf die Titelgestalt wird die Satire als künstlerisches Darstellungsmittel des Autors hervorgehoben. Von Joseph Ettlinger und vom Rezensenten des Kunstwarts wird außerdem auf den bescheidenen Handlungskern des Romans hingewiesen . 11

Mehr als die anderen Rezensenten hat Paul Schlenther ein feines Gefühl für den relativierenden Charakter der Figurendarstellung in Frau Jenny Treibel, aber nur tastend erkennt er jene Verbindlichkeit, wie sie sich in der Kombination von Gestaltung und Gesinnung bei einigen Romanfiguren äußert.

Am meisten jedoch hebt sich Schlenthers Sprachstil von dem anderer Rezensenten ab, da er den literarischen Text nicht nur rational, sondern auch emotional aufnimmt und als aufmerksamer und engagierter Leser seine Emotionen auch offen zeigt. Seine Interpretation erfolgt in ständiger Auseinandersetzung mit dem Text, den er produktiv verarbeitet, wobei er sich nicht auf eine Wieder­gabe des Inhalts beschränkt. Da er seine Beobachtungen an der Sprache Fontanes mit eigenen sprachlich-stilistischen Feinheiten bereichert, wird dem Autor die Rezension gewiß Freude bereitet haben. 1 5

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