Heft 
(1989) 47
Seite
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Ulrike Horstmann-Guthrie, Cambridge

Fontanes Kriminalerzählungen und Droste-HülshoffsDie Judenbuche"

Obwohl Fontane in einem Brief vom 30. 10. 1890 behauptet, erst in diesem Jahr Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842) gelesen zu haben, finden sich einige zentrale Themen und Motive dieser Novelle schon in seinen vier Kriminalerzählungen Grete Minde (1879), Ellernklipp (1881), Unterm Birnbaum (1885) und Quitt (1890). 1 Weder die Tatsache, daß die Schuld-Sühne-Thematik seit dem 18. Jahrhundert immer wieder in der erzählenden Literatur behandelt wurde, noch die Feststellung, daß sowohl Droste-Hülshoff als auch Fontane in den genannten Werken der Pitaval-Tradition verpflichtet sind, beschreibt die vielen gemeinsamen Züge der Erzähltechnik in diesen fünf Erzählungen hin­reichend. 2 Obwohl Die Judenbuche in Analysen der vier Kriminalerzählungen Fontanes mehrfach erwähnt worden ist, besonders im Zusammenhang mit Unterm Birnbaum, 3 ist eine gründliche Untersuchung der Gemeinsamkeiten bisher nicht geleistet worden. Im folgenden soll versucht werden, dies nachzuholen.

In der Judenbuche entwirft Droste-Hülshoff das Bild einer geschlossenen Gesell­schaft, die dem Individuum soziale Geborgenheit bietet, wenn es sich eingliedert, Außenseitern gegenüber aber Intoleranz zeigt und sie unter Druck setzt, sich an die herrschenden Normen anzupassen. 4 In einer solchen Gesellschaft spielt die öffentliche Meinung" eine große Rolle im Leben des Einzelnen. Friedrich Mergel ist aufgrund seiner Abstammung von vornherein zum Außenseitertum verurteilt: Sein Vater, ein Trinker, kommt unter ungeklärten Umständen um, seine Mutter fristet ein kärgliches Dasein. Vor allem diese Lebensumstände sind es, die Fried­rich zu verbessern trachtet, um die Anerkennung der Dorfgemeinschaft zu erringen, denn die Vorurteile seiner Umwelt basieren vor allem auf seiner und seiner Mutter Armut. Die Hradschecks in Unterm Birnbaum sind ebenfalls Außenseiter in Tschechin, zunächst, weil sie erst vor ca. zehn Jahren zugezogen sind, aber auch, weil Abel Gastwirt und nicht Bauer und Grundbesitzer ist. Dazu kommt, daß Ursel katholisch war und erst vom ortsansässigen Pastor zum pro­testantischen Glaubenbekehrt" worden ist. Auch in Fontanes Erzählung wird deutlich, daß die Hradschecks eine Chance haben, in die Dorfgemeinschaft inte­griert zu werden, wenn es ihnen gelingt, ihreLebensumstände den Vorstellun­gen .. . [der] Umwelt von guten Verhältnissen anzugleichen, und sei es auch nur zum Schein". So läßt sich Friedrichs und besonders Ursels Repräsentations­sucht als Überkompensation früherer gesellschaftlich geächteter Verhältnisse interpretieren. Die sozialen Bedingungen jedenfalls führen in beiden Fällen zu Verbrechen. Bei Friedrich ist die Ermordung des Juden Aaron Reaktion auf die Bloßstellung seiner wahren finanziellen Verhältnisse vor der Dorfgemeinschaft; der Verlust seiner Selbstachtung und Gruppenidentität führt zu einer Verzweif­lungstat. Abel Hradscheck hingegen begeht einen Mord, um eben diesem Verlust vorzubeugen. Im Gegensatz zu Friedrich Mergel manipuliert er die öffentliche Meinung sehr geschickt, und während jener und Ursel Hradscheck zeit ihres Lebens von Gewissensbissen gequält werden, ist er ausschließlich durch Angst vor Entdeckung des Verbrechens motiviert.

In beiden Erzählungen wird der Umwelt der Protagonisten ein großer Teil der Schuld an dem Verbrechen gegeben. Auch Grete Mindes Werdegang wird als von ihrer Umwelt, besonders ihrer Familie, beeinflußt dargestellt. 6 Ebenso entlastet

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