Heft 
(1989) 48
Seite
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hält er ist kein Parteigänger des radikal Neuen, aber ein Befürworter aller verjüngenden Impulse, kein christlicher Revolutionär, aber hellhörig für alle in der Zeit und in der sozialen Welt vernehmbaren Verwandlungen. Die praktische Pflicht zur Menschenfürsorge, die sich an die Bedürftigen hingibt, ist ihm Auf­gabe und Ziel. In ihm kehrt, ungeachtet aller zeitgeschichtlichen Veränderungen am Ende des 19. Jahrhunderts, das Grundbild jenes Theologentypus wieder, der in den Romanen gegen Ende des 18. Jahrhunderts den autoritätssüchtigen Dogma­tikern der Orthodoxie den Gehorsam verweigerte. Lorenzen verweigert nichts, aber er lebt für eine innere Verjüngung und für eine christliche Praxis des Glau­bens. So ist auch er ein .Linker", ganz ohne Ideologie [! HE], nur aus seiner Menschlichkeit heraus. Dies stört nicht sein Verhältnis zu Dubslav von Stechlin, dem junkerlichen Gutsherrn und Kirchenpatron, nicht das Vertrauen von dessen Kindern zu ihm. Denn der gealterte Dubslav Stechlin denkt und fühlt zwischen Altem und Neuem, zwischen Konservatismus und dem, was sich in der Zeit bewegt und Veränderungen will, progressiver, ja sozialistischer als ihm bewußt ist. Lorenzen ist wohl die eindrucksvollste Figur des Geistlichen, die im deut­schen Roman des 19. Jahrhunderts dargestellt wurde." (Martini 1984: 142)

In seinem Artikel, der eine Übersicht der Darstellung des Pfarrers in der Litera­tur bieten will, hat Martini selbstverständlich nicht alle Gründe nennen können, weshalb Fontane ein nachhaltiges Interesse am häuslichen und am gesellschaft­lichen Leben des evangelischen Geistlichen der Mark Brandenburg fand.

Der Pfarrer ist bei Fontane in einer Reihe von Werken von den Wanderungen durch die Mark Brandenburg bis zum Stechlin eine relativ dauerhafte Erschei­nung, manchmal als gesellschaftliche Staffage, häufig jedoch in einer Funktion, die dem Ethos Fontanes als Erzähler nahesteht.

Die Geistlichen der Mark Brandenburg, damit ist ihre Rolle in Fontanes Leben und Werk zunächst zu charakterisieren, sind für Fontane .Lieferanten" von historischem und kulturhistorischem Stoff. 1 Im Nachwort zum Band Spreeland der Wanderungen durch die Mark Brandenburg redet Fontane diese Gruppe wie Mitarbeiter an und bewertet sie mit Hilfe eines literarischen Vorbilds aus dem achtzehnten Jahrhundert:Und nun ihr meine Geliebtesten, ihr meine Land­pastoren und Vicars of Wakefield! Ach, auch euch lacht nicht eigentlich die Sonne der Volksgunst, und wirklich, wer euch so zur Synode ziehen sieht, angetan mit jenem Frack und jenem Blick, die zu zeitigen unsrem norddeutschen Protestan­tismus innerhalb seiner andren Aufgaben Vorbehalten war, und wer euch dann sprechen hört über den Zeitgeist, den ihr ändern möchtet und nicht ändern könnt, und über die Juden, die bekehrt werden sollen und doch am Ende nicht wollen der betet auch wohl wiederbewahr uns lieber Herre Gott."

Aber mit wie großem Unrechte! Der in die Residenz verschlagene Landpastor ist eben ein sich selbst Entfremdeter, der morgens vor seinem Spiegelbild er­schrickt, und erst von dem Augenblick an, wo die Wichtigkeit und die weiße Binde wieder von ihm abfällt und das schwarzsamtne Hauskäpselchen in sein Recht tritt, erst von diesem Augenblick an ist er wieder er selbst und kehrt zurück in den Urständ aller ihm eignenden guten Dinge. Der ex cathedra sprechende Pastor und der Lehn- und Sorgenstuhlpastor sind so grundverschieden wie roi Henri wenn er in die Schlacht zieht und roi Henri wenn der Dauphin auf ihm reitet. Der eine ganz Schwert und Rüstung, der andre ganz Idyll. Und nur den letztren hab' ich kennengelernt. Kennen und lieben, was ein und dasselbe bedeu­tete. Denn auch hier wieder nahm ich das Gegenteil von dem wahr, was sich

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