Ulrike Horstmann-Guthrie, Cambridge
Thackerays „Catherine" und Fontanes „Grete Minde"
Wenn Fontane mit Thackeray und anderen zeitgenössischen Romanschriftstellern in einem Atemzug genannt wird, so geschieht das häufig im Rahmen einer Diskussion über seinen Rang unter den europäischen Realisten. 1 Wie immer man Fontanes Werk einstuft, diese Diskussion hat zumindest gezeigt, daß ein Vergleich mit Dickens oder George Eliot, Stendhal oder Flaubert, Tolstoi oder Turgenjew sinnvoll und fruchtbar ist. Namentlich mit Thackeray hat er mehr gemeinsam, als daß sie Romane über die Gesellschaft ihrer eigenen Epoche geschrieben haben. Beide schrieben auch historische Romane, was in engem Zusammenhang stand mit ihrem Interesse an Geschichte. Thackeray behandelt seine Lieblingsepoche in den Vorlesungen The English Humourists of the Eighteenth Century (1851) und The Four Georges (1855—56) sowie in seinen historischen Romanen The Memoirs of Barry Lyndon, Esq. (1844), The History of Henry Esmond (1852) und The Vir- ginians (1857—59); eine geplante Geschichte der Regierungszeit Königin Annes blieb unvollendet. Ein großer Teil der Schriften, die Fontane vor seinem ersten Roman verfaßte, tragen historiographischen Charakter, so etwa die Wanderungen durch die Mark Brandenburg (erschienen ab 1862) und seine Kriegsberichte. Seine historischen Romane Vor dem Sturm (1878) und Schach von Wuthenow (1882) zeichnen sich ebenso wie Thackerays Henry Esmond und The Virginians dadurch aus, daß sie nicht nur eine bestimmte Epoche der Vergangenheit heraufbeschwören und am Schicksal ihrer handelnden Personen historische Ereignisse beleuchten, sondern gleichzeitig eine Aussage über den Bezug dieser Ereignisse zu ihrer eigenen Gegenwart machen. Dieselbe Absicht ist aus Fontanes Plänen zu dem historischen Roman Die Likedeeler erkennbar. 2
Ob die beiden frühen Werke Catherine (1839—40) und Grete Minde (1879) auch als historische Romane oder Erzählungen in diesem Sinne bezeichnet werden können, soll eine vergleichende Betrachtung ihrer Entstehungsgeschichte, der Verarbeitung historischer Quellen und der Charakterbilder der Zentralfiguren zeigen. Einen historischen Handlungsraum haben diese Erzählungen mit den oben genannten Romanen gemeinsam: Thackerays Titelheldin lebte im frühen 18. Jahrhundert, Fontanes im 17. kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. In beiden Fällen handelt es sich um Biographien von Verbrecherinnen; beide.Autoren berufen sich auf identifizierbare Quellen: den Newgate Calendar und eine altmärkische Chronik. 3 Thackerays Ziel ist u. a. eine Parodie der sogenannten „Newgate Novel"; Catherine ist seine längste Propagandaschrift im Laufe einer Jahre dauernden Kampagne gegen dieses Genre und seine Autoren. Newgate Novels haben gewöhnlich Kriminelle zu Hauptfiguren, deren Lebensgeschichte der Sammlung von Verbrecherbiographien entnommen ist, die nach dem berühmten Londoner Strafgefängnis Newgate Calendar hieß. 4 Da es sich um historische Persönlichkeiten handelt, lassen sich die Gattungen Newgate Novel und historischer Roman oft schwer voneinander abgrenzen. 5 Zu den bekanntesten Beispielen dieser Mischform gehören Ainworths Rookwood (1834) und Jack Sheppard (1839) sowie Bulwer-Lyttons Paul Clifford (1830) und Eugene Aram (1832). In diesen Romanen werden kriminelle Protagonisten zu Helden, mit denen zu sympathisieren der Leser angehalten ist, und vor allem daran nahmen zeitgenössische Kritiker wie Thackeray Anstoß. Die Zeitschrift Fraser’s Magazine, für die er seit 1837 regelmäßig tätig war,veröffentlichte die meisten seiner Angriffe auf Autoren, die Verbrecher idealisierten und in sentimentalem Ton von ihrem Leben berichteten, und auf ein Lesepublikum, das immer neue Produkte dieser Art verschlang. 6
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