hauptstadt auf und legte die Echtheit des Milieus und der Atmosphäre, die Vielfalt der Erscheinungen sowie die Breite des sozialen Spektrums als grundlegende Kriterien an die Werke an. Die neue Art der „Berliner Romane” ließ nicht lange auf sich warten. In einer Reihe von Büchern orientierte bald schon der auf die Stadt verweisende Untertitel auf diese Prosagattung.
Von den Zeitgenossen wurde besonders das Schaffen von Max Kretzer beachtet, der aber wegen stilistischer Unzulänglichkeiten und vor allem infolge von krassen Schilderungen des großstädtischen Elends und Verbrechertums kein unumstrittener Autor war. Kretzer, der heute fast vergessen ist, gestaltete in seinen Romanen als erster das großstädtische Proletariat und wurde deshalb von den Anführern des Naturalismus für den Schöpfer 3 des modernen „Berliner Romans" gehalten. Kretzer war um das sorgfältige Studium der Berliner Realitäten im östlichen und nordöstlichen Teil der Stadt bemüht und gab die Zersetzung des altbürgerlichen Milieus infolge der Industrialisierung wieder.
Den breitesten Leserkreis fand mit dem Romanzyklus über die Familie Buchholz 4 Julius Stinde, der dem Mittelbürgertum den Vorzug gab und diese Schicht satirisch betrachtete. Auch er erschloß seine Figuren aus ihrem sozialen Milieu, schilderte aber die Stadt entgegen den Zeittendenzen — ähnlich wie Heinrich Seidel in dessen Humoresken über Leberecht Hühnchen — in heiteren Farben. Der naturalistischen Mode folgten Paul Lindau und Fritz Mauthner, die in den 80er Jahren mit dem Romanzyklus „Berlin"', beziehungsweise „Berlin W" 6 auftraten und der Bourgeoisie aus dem Berliner „Westen" den Spiegel vorhielten. In ihren Romanen kommen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Mißstände im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Ausdruck, die später Heinrich Mann in seinem Buch „Im Schlaraffenland" geißelt.
In der Flut der in Mode gekommenen „Berliner Romane“ fanden sich nur wenige Werke von hohem ästhetischen Wert und bleibender Bedeutung. Man vermißte die Darstellung von unteren Schichten der Berliner Bevölkerung. Ferner fehlte ein Buch mit einem Querschnitt durch die ganze heterogene großstädtische Gesellschaft. Nur die Schilderungen Berlins von Theodor Fontane, dem es auf Grund von reichen sozialen Erfahrungen in seinen Altersromen mehr als den anderen Autoren gelang, den Blickpunkt zu erweitern, wurden von den Publizisten für ein echtes Bild der Stadt gehalten. Die Entstehung der Fontaneschen Gesellschaftsromane fiel in die Blütezeit der unter dem Signum „Berliner Roman" stehenden Literatur. In einem Brief an Paul Lindau gesteht Fontane, daß es auch ihm bei der Arbeit an „L'Adultera" darum ging, die Berliner Szenerie zu treffen: „Als ich vor beinah 8 Jahren meine ,L'Adultera' wohl oder übel schrieb, lag mir vorwiegend daran, ein Berliner Lebens- und Gesellschaftsbild zu geben, das Zuständ- liche, die Szenerie war mir Hauptsache." 7 In den Augen der Nachwelt sollte Fontane, in dessen späten Werken sich Berlin von der Topographie bis hin zu den Erscheinungen der sozialen Mobilität spiegelt, den Rang des Autors der „Berliner Romane" erlangen.
Von den in den „Berliner Romanen" festgehaltenen Realitäten verweisen in erster Linie die Bezeichnungen von Straßen, Plätzen und Stadtvierteln auf die Stadt als Handlungsschauplatz. Die topographische Exaktheit des epischen Raumes setzte sich in der Literatur — nicht ohne Widerstand der Verleger — Anfang der 80er Jahre durch und gehörte zu den Mitteln der naturalistischen Milieuschilderung. Fontane übertrifft aber mit der Pietät für die Details der realen Welt die dem Naturalismus näherstehenden Autoren. Mit der topographischen Markierung des Wohnortes seiner Figuren legt er deren gesellschaftliche Position in einer von
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