Großstädte ihre historisch gewachsenen Strukturen aus der vorindustriellen Epoche zerstört werden und ein Wandel des Lebensstils erfolgt. Da sich die soziale Kommunikation in der Großstadt in höherem Maße in der Öffentlichkeit abspielt, lockern sich die Bindungen an die primären Gruppen: die Familie und Nachbarschaft oder an die Kirche und die handwerklichen Berufsverbände. Die gewachsenen zwischenmenschlichen Kontakte werden oberflächlich, bruchstückhaft, unpersönlich. Es bildet sich ein schizoid veranlagter Typ des Großstädters heraus. Unter Aufnahme von Wirths Sozialisierungstheorie werden die „Berliner Romane" auch darauf untersucht, wie diese Literatur auf die vor sich gehenden sozialen Veränderungen reagiert. Die getrennte Analyse von verschiedenen Klassen und Schichten ergibt, daß diese im epischen Bild Berlins vom Prozeß der Urbanisierung graduell unterschiedlich betroffen sind. Beispielsweise bleiben im Klein- und Mittelbürgertum die überlieferten Lebensformen: die handwerklichen Traditionen, die engen familiären und nachbarlichen Verbindungen noch weitgehend erhalten. Aber der zunehmende Widerspruch zwischen Sein und Schein zeugt davon, daß auch hier die Menschen vom Nachhall des Gründerrausches erfaßt werden.
Die Intelligenz wird in den „Berliner Romanen" als eine heterogene Gesellschaftsgruppe betrachtet. Die Bourgeoisie beweist eine große Anpassungsfähigkeit an die sich ändernden Lebensbedingungen. In der epischen Wirklichkeit verdrängt die unternehmungsfreudige und rücksichtslose Bourgeoisie Schritt für Schritt die Aristokratie, die sich durch die vom ländlichen Milieu in die Großstadt übertragenen Standesvorurteile immer mehr gehindert fühlt, von den führenden Positionen.
Der vorwiegend von Kretzer wiedergegebene Lebensstil des Proletariats ist weitgehend von den Bedingungen der Großstadt geprägt. Da auch die Frau häufig berufstätig ist, schwindet in den proletarischen Familien der bisherige Typ einer Familie mit der Rollenverteilung zwischen dem Mann und der Frau. Die nachbarlichen Kontakte, die im altbürgerlichen und kleinstädtischen Milieu Geborgenheit sowie moralische und psychische Festigung sicherten, schädigen in der Gedrängtheit der Mietskasernen das Familienleben und depravieren die Menschen.
Die von der Literatur konstatierten, häufig auf ein Motiv — den Aufstieg der Bourgeoisie — reduzierten sozialen Umschichtungsprozesse sprengen die überkommenen sozialen Strukturen und prägen das Berlin nach den Gründerjahren. Die Wiedergabe der sich aus der fortschreitenden Differenzierung der Berliner Gesellschaft ergebenden Spannungen ist eines der bedeutsamen Kennzeichen der „Berliner Romane''.
Anmerkungen:
1 Julius Rodenberg gab seinem 1879 erschienenen Roman den Titel „Die Grandidiers. Ein Berliner Roman aus der Französischen Kolonie".
2 Eine solche Auffassung der „Berliner Romane' findet sich beispielsweise bei Heinrich Spiero in seinem Aufsatz „Vom Berliner Roman' in der „Germanisch- Romanischen Monatsschrift' /1914/ oder im Kapitel „Berliner Romane" des 1962 erschienenen Buches „Fontane, Berlin und das 19. Jahrhundert von Herbert Roch.
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